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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
Autoren: Javier Marías
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entsprechenden Gegenleistung, so daß sie miteinander im reinen wären und dann auseinandergehen könnten), so als wäre der Gerettete berechtigt, seinem Retter zu sagen: »Wenn ich noch immer da bin, dann deshalb, weil du es so gewollt hast; es ist, als wäre ich durch dich neu geboren worden, also mußt du mich beschützen und für mich sorgen und auf mein Wohl bedacht sein, denn ohne dich wäre ich längst fern von jedem Ungemach und außer Gefahr oder längst halbwegs gerettet im unvollkommenen und ungewissen Vergessen.«
    Verweigert man seinem bettelnden Nachbarn dagegen am ersten Tag das Almosen, dann wird man am zweiten das Gefühl haben, in seiner Schuld zu stehen, und vielleicht wird sich diese Empfindung am dritten und vierten und fünften verstärken, denn wenn der Bettler diese Zeitspanne ohne meine Hilfe überstanden und gemeistert hat, wie sollte ich ihm dann dieses Verdienst nicht zugestehen und ihm nicht dankbar sein für das, was ich mir erspart habe? Und jeden Morgen – jede Nacht, die er überlebt – wird sich in uns die Vorstellung verfestigen, daß es an uns ist, einen Beitrag zu leisten, daß wir an der Reihe sind. (Aber das betrifft nur diejenigen, die auf die zerlumpten Gestalten achten, die meisten übersehen sie, setzen einen undurchsichtigen Blick auf und nehmen sie nur als Kleiderbündel wahr.)
    Und so hört man den Bettler, der einen auf der Straße anspricht, und schon entsteht eine Verbindung; und man hört den Ortsfremden oder den Verirrten, der nach einer Adresse fragt, und manchmal begleitet man ihn, wenn man denselben Weg hat, und dann vereinen beide ihre Schritte und werden ein jeder zum beharrlichen parallelen Wesen des anderen, was jedoch niemand als unheilbringend oder störend oder hinderlich empfindet, denn sie gehen freiwillig miteinander, obwohl sie sich nicht kennen und vielleicht nicht einmal miteinander sprechen, während sie dieses Wegstück zurücklegen (aber der Ortsfremde oder der Verirrte kann immer an einen anderen Ort geführt werden, in eine ausweglose Situation, in einen Hinterhalt, auf das freie Feld, in eine Falle); und man hört den Unbekannten, der an der Tür vorspricht, um zu überreden oder zu verkaufen oder zu bekehren, der stets versucht, uns zu überzeugen, und stets rasch erzählt, und weil man ihm aufgemacht hat, ist man schon verwickelt; und man hört den Freund am Telefon mit drängender Stimme oder außer sich oder honigsüß – nein, eher aus dem Häuschen –, bittend oder fordernd oder plötzlich drohend, und schon ist man verstrickt; und man hört seine Frau und seine Kinder, die fast nur so mit einem sprechen oder nur noch so mit einem zu sprechen vermögen aus der größeren Entfernung, die die Konturen verblassen läßt, ich meine bittend, und dann muß man das Messer oder die Schneide ziehen, um dieses Band zu durchtrennen, das einem am Ende die Luft abschnüren wird: auch ihnen hat man dazu verholfen, geboren zu werden, den Kindern, die nicht fern von jedem Ungemach und außer Gefahr sind und es niemals sein werden, und man hat auch ihrer Mutter dazu verholfen, daß sie geboren wurden, ihrer Mutter, die noch eins mit ihnen ist, denn sie ist nicht mehr vorstellbar ohne Kinder – sie bilden einen Kern, und sie schließen einander niemals aus –, und diese sind nicht denkbar ohne ihre Gestalt, die sie noch brauchen, so sehr, daß er sie unbedingt ihnen zuliebe schützen muß, für sie sorgen und auf ihr Wohl bedacht sein muß – er sieht es noch immer als seine Aufgabe –, obwohl Luisa das nicht klar oder mit vollem Bewußtsein erkennt und sie räumlich sehr weit weg ist und sich zeitlich von Mal zu Mal und jeden Tag entfernt. Oder schemenhaft wird in jeder Nacht, die ich überstehe und durchquere und hinter mich bringe, noch immer, ohne sie zu sehen, ich sehe sie nicht.

L uisa verwickelte oder verstrickte sich nicht, aber sie sah sich einmal in eine Verbindung gedrängt durch eine Bitte und ein Almosen und zog auch mich ein wenig mit hinein, das war, bevor wir uns trennten und ich nach England ging, als wir noch nicht ahnten, wie sehr wir uns voneinander entfernen und uns den Rücken kehren würden, oder zumindest ich nicht, man weiß erst später, wann man das Vertrauen verloren hat und wann andere das Vertrauen verloren, das sie in einen gesetzt hatten, wenn man das überhaupt je weiß, ich glaube es im Grunde nicht; ich meine, daß wir erst später, wenn die Gegenwart schon Vergangenheit ist und sehr veränderbar und
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