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Unsere schoenen neuen Kleider

Unsere schoenen neuen Kleider

Titel: Unsere schoenen neuen Kleider
Autoren: Ingo Schulze
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genauso gut Wirklichkeit verfälscht oder ausgelöscht werden. Ein Beispiel dafür ist das Wort »Endlager«. Es suggeriert, der atomare Abfall könnte an einem bestimmten Ort für jetzt und alle Ewigkeit gelagert werden und wäre damit ein für alle Mal unschädlich gemacht. Aber hier geht es ja nicht um Jahrzehnte oder Jahrhunderte der Lagerung, sondern um Jahrtausende. Das häufig verwendete Plutonium 239 hat beispielsweise eine Halbwertszeit von vierundzwanzigtausend Jahren. Schon jetzt übernimmt das Gemeinwesen den übergroßen Anteil der Kosten dieser Lagerung. Allein für die Schließung des Lagers Asse werden Kosten von zwei bis sechs Milliarden Euro erwartet. Das Wort Endlager jedoch ist wie ein Virus, das unterschwellig die Vorstellung verbreitet, der radioaktive Müll ließe sich entsorgen, das unlösbare Problem könnte gelöst werden.
    Geradezu klassische Beispiele für Falschwörter sind im Deutschen die Begriffe »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer«. Denn der »Arbeitgeber« nimmt die Arbeitskraft eines anderen an. Der »Arbeitnehmer« muss seine Arbeitskraft verkaufen. Fange ich mir dieses Virus ein, dann kann ich aufgrund der Sprache eigentlich nur noch denken: Wer Arbeitsplätze schaffen will, muss alles dafür tun, dass es Arbeitgeber gibt. Denn wer sonst sollte den Menschen die Arbeit geben? Ein eher simples Beispiel dafür, wie Wirklichkeit verstellt, ja ausgelöscht werden kann, ist die Art und Weise, wie in Deutschland die Arbeitslosenstatistik geführt wird. Die Kriterien, die der Statistik zugrunde liegen, enthalten so viele Ausnahmen, dass Hunderttausende Arbeitslose weggelogen werden.
    Unversehens gelang es dagegen im Herbst letzten Jahres der deutschen Bundeskanzlerin, die Wirklichkeit zu benennen. Sie kreierte dafür einen Begriff, der in seiner Unerhörtheit regelrecht befreiend wirkte. Angela Merkel kombinierte das Adjektiv »marktkonform« mit »Demokratie«. Dafür verdient sie Anerkennung. Abgesehen von der erhellenden Analogie zu Putins »gelenkter Demokratie«, bringt der Begriff »marktkonforme Demokratie« unsere Verhältnisse auf den Punkt. Plötzlich ist klar, wer das Sagen hat. Und man braucht keine Etymologie zu bemühen, um zu erkennen, dass eine marktkonforme Demokratie keine Demokratie mehr ist. Der Vorteil dieser Formulierung besteht darin, einen Begriff für unsere Erfahrungen gefunden und diese damit verständlicher gemacht zu haben. Denn nun lässt sich auch leichter die Gegenposition formulieren, nämlich das, was nottut: »demokratiekonforme Märkte«. Wollen wir ökonomisch, sozial, ökologisch und ethisch überleben, brauchen wir demokratiekonforme Märkte.
    Begriffe aber bergen die Gefahr in sich, sich zu verselbstständigen und für die Sache selbst gehalten zu werden. Begriffe, die nicht ständig an der Realität überprüft werden, drohen entweder beliebig oder für dogmatische Konstruktionen missbraucht zu werden. Begriffe neigen immer dazu, unscharf zu werden, fehlt ihnen ein konkreter Kontext.
    Am Ende der Begriffe aber beginnen die Geschichten. In Lessings Drama Nathan der Weise wird Nathan vom Sultan Saladin, der in Geldschwierigkeiten steckt, gefragt, welche Religion denn die wahre sei: das Judentum, das Christentum oder der Islam. Nun hätte Nathan erklären können, wie diese Religionen historisch entstanden sind, worin sie sich unterscheiden und was er jeweils für besser, was für schlechter hält. Und am Ende hätte er dann sagen müssen: Die Wahrheit ist folgende … Überzeugend wäre er damit wohl für keinen der Gläubigen gewesen. Zudem hätte er entweder den Sultan beleidigt oder wäre als Jude unglaubwürdig geworden. Statt aber mit Begriffen zu hantieren, erzählt Nathan eine Geschichte. Mit der Ringparabel bringt er ein ganz anderes Denken in die Diskussion. Es ist kein Streit mehr um Begriffe, sondern eine Geschichte und ihre Deutung. Damit verändert er die Sichtweise auf die Wirklichkeit, ja die Parabel wird wie von selbst zu einer Art Handlungsanleitung. Jeder versuche sich durch sein Verhalten als Träger des wahren Ringes zu erweisen, der »vor Gott und den Menschen angenehm« mache. Lessing verlegt die Frage nach der Wahrheit vom Begriff in die Erzählung, vom Himmel auf die Erde, von Ansprüchen und Behauptungen zu Taten.
    An der Deutung einer Geschichte kann jeder teilnehmen und seine eigenen Erfahrungen an ihr überprüfen. Des Ka i sers neue Kleider von Hans Christian Andersen schien mir dafür geeignet zu sein, weil fast jeder
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