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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Er hielt sich stets etwas abseits. Dort drüben, ein gutes Stück vom Gitterzaun entfernt, außerhalb unserer Reichweite. Mit fiebrigem Blick, die Arme verschränkt. Mehr als verschränkt, verschlossen, verhakt. Als hätte er Bauchschmerzen oder würde frieren. Als klammerte er sich an sich selbst, um nicht zu fallen.
    Er trotzte uns allen, sah jedoch niemanden an. Hielt Ausschau nach einem bestimmten Jungen und presste eine Papiertüte fest an sein Herz.
    Darin war ein Schokocroissant, das wusste ich genau und fragte mich jedes Mal, ob es nicht völlig platt gedrückt war, wo er es ...
    Ja, daran hielt er sich fest, an der Schulglocke, an der Verachtung der anderen, am Abstecher in die Bäckerei und an den vielen kleinen Fettflecken an seinem Revers, die ebenso vielen unverhofften Medaillen glichen.
    Ja, unverhofften ...
     
    Aber – wie hätte ich das damals wissen können?
    Damals flößte er mir Angst ein. Seine Schuhe waren zu spitz, seine Fingernägel zu lang, sein Zeigefinger zu gelb. Seine Lippen zu rot. Sein Mantel zu kurz und viel zu eng.
    Seine Augenränder zu dunkel. Und seine Stimme zu seltsam.
    Wenn er uns schließlich bemerkte, lächelte er und nahm die Arme auseinander. Bückte sich schweigend, berührte seine Haare, seine Schultern, sein Gesicht. Und während mich meine Mutter fest an sich drückte, zählte ich noch einmal voller Faszination die vielen Ringe an der Wange meines Freundes.
    Er hatte einen an jedem Finger. Echte Ringe, schöne, wertvolle, wie meine Großmütter sie hatten. Und immer wandte meine Mutter sich in diesem Moment entsetzt ab, und ich ließ ihre Hand los.
     
    Alexis hingegen nicht. Er entzog sich nie. Hielt ihm mit der einen Hand den Schulranzen hin und schob mit der anderen, der freien, das Schokocroissant in den Mund, während er in Richtung Marktplatz davonging.
    Alexis mit seinem Außerirdischen auf hohen Absätzen, seinem Gruselmonster, dem Clown aller Grundschüler, fühlte sich sicherer als ich und wurde mehr geliebt.
    Glaubte ich.
     
    Trotzdem hatte ich ihn eines Tages gefragt: »Hm, ist das denn – ist das jetzt ein Mann oder eine Frau?«
    »Wer?«
    »Der – die – dich abends abholt?«
     
    Er hatte mit den Schultern gezuckt.
    Ein Mann natürlich. Den er aber seine Nounou nannte.
    Und sie, seine Nounou, hatte zum Beispiel versprochen, ihm Goldknöchelchen zum Spielen mitzubringen, die er gegen eine meiner Kugeln eintauschen würde, wenn ich wollte, oder, Mensch, heute kommt sie zu spät, meine Nounou. Hoffentlich hat sie ihren Schlüssel nicht verloren. Sie verliert nämlich immer alles, weißt du. Sie sagt oft, dass sie irgendwann ihren Kopf bei der Friseuse oder in der Umkleidekabine vom Prisunic vergessen wird, und dann lacht sie und sagt, zum Glück hat sie ihre Beine!
    Es ist ein Mann, das siehst du doch.
    Was für eine Frage ...
     
    Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern. Dabei war er sehr ausgefallen.
    Ein Name, der nach Music-Hall, abgewetztem Samt und kaltem Rauch klang. Ein Name wie Gigi Lamor oder Gino Cherubini oder Rubis Dolorosa oder ...
    Ich weiß es nicht mehr, und das macht mich wütend. Ich sitze in einem Flugzeug ans Ende der Welt, ich sollte schlafen, ich muss schlafen. Ich habe sogar Medikamente genommen. Ich habe keine Wahl, sonst werde ich verrecken. Ich habe schon so lange kein Auge mehr zugetan, und ich ...
    Ich werde verrecken.
     
    Aber nichts hilft. Weder die Chemie noch der Kummer noch die Erschöpfung. In mehr als dreißigtausend Fuß, in der Leere hier oben, kämpfe ich immer noch wie ein Idiot, stochere in nicht ganz erloschenen Erinnerungen herum. Und je stärker ich in die Glut blase, umso stärker brennen mir die Augen, und je weniger ich sehe, umso mehr gehe ich in die Knie.
     
    Meine Sitznachbarin hat mich schon zweimal gebeten, meine Leselampe auszumachen. Tut mir leid, das geht nicht. Es ist vierzig Jahre her, Madame. Vierzig Jahre, verstehen Sie? Ich brauche Licht, um den Namen dieser alten Transe zu finden. Den genialen Namen, den ich vermutlich vergessen habe, weil ich ihn auch Nounou genannt habe. Und den ich auch vergöttert habe. Weil es bei ihnen so war: Man vergötterte.
     
    Nounou, die eines Abends im Krankenhaus in ihrem zerrütteten Leben aufgetaucht war.
    Nounou, die uns verwöhnt, verzogen, verköstigt, vollgestopft, getröstet, entlaust und richtig hypnotisiert hatte, tausendmal verzaubert und wieder vom Zauber befreit. Die uns aus der Hand gelesen, Karten gelegt, ein Leben als Sultan, als König,
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