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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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in denen die Gespenster und Ängste der Vergangenheit mich überfielen. Und es gibt Tage, an denen ich es nicht nur mit mir aushalte, sondern meine eigene Gesellschaft sehr genieße. Momente voller Klarheit, Frieden und Heiterkeit …
     
    … und massenweise Rückfälle. Im Bürostress eine Zigarette geraucht, bei einer Party Wein getrunken, dem Kaffeeduft aus der Bäckerei erlegen … Das war’s dann also mit der tollen »Arschtritt«-Offensive. Von wegen Durchhalten, was du dir vorgenommen hast. Nicht mal vier Wochen stark bleiben kannst du Schwächling …
    Von wegen! Ich fang einfach noch mal von vorne an. Wenn ich an irgendeinem Punkt scheitere – beginnt »Arschtritt« von Neuem. Die vollen vier Wochen. Das habe ich so festgelegt, weil ich wusste, dass ich schwach werden kann – aber weil es letztlich keine Rolle spielt, wie viele Anläufe ich für ein Ziel brauche. Solange ich es nicht aus den Augen verliere. Es bringt mich selten weiter, um Niederlagen zu kreisen. Gestern war ich schwach – warum, ist unwichtig. Aber heute werde ich stark sein. So habe ich es mir vorgenommen, quasi der letzte Rettungsversuch eines Verzweifelten in einer neu aufkeimenden Depression. Eines Menschen, der alles hat, aber sich das Leben mit Hadern, Sinnkrisen und kräftezehrenden Beziehungsdramen zur Hölle macht. Ich setze große Hoffnungen in meinen »Arschtritt«, aber
wie drastisch und grundlegend sich mein Leben am Ende tatsächlich verändern wird – das ahne ich nicht an diesem Morgen um 5.30 Uhr.
    Um Niederlagen zu kreisen, bringt mich selten weiter.
Es spielt auch keine Rolle, warum ich gestern schwach war.
Heute werde ich stark sein!

Bestandsaufnahme
    Rückblende: verzagt und resigniert
    4. Juli 2006 – London: Ich erinnere mich genau an diesen 47. Geburtstag in London. Die untergehende Sonne taucht das Häusermeer in blutrotes Licht. Ich sitze auf meiner Dachterrasse in Hampstead und halte ein Glas Sekt in der Hand. Ich sehe in der Ferne die Kuppel der St. Paul’s Cathedral und das Riesenrad von London Eye, höre den Lärm der pulsierenden Großstadt und fühle mich ausgeschlossen und furchtbar allein. Selten hat sich mein Leben so falsch angefühlt. Als sich die Dunkelheit über London senkt, beginnt eine weitere finstere Nacht.
    Am nächsten Morgen ist mein Kopf wattig und schwer, das Sodbrennen mörderisch. Die strahlende Julisonne verhöhnt mich. Zwei Flaschen Sekt habe ich an diesem einsamen Geburtstag heruntergekippt. Die dritte ist umgefallen und hat eine dunkle Lache auf Tisch und Parkett hinterlassen. Es stinkt nach abgestandenem Alkohol und kaltem Rauch. Ich zünde die erste Zigarette des Tages an und muss heftig husten. Aus dem Badezimmerspiegel blickt mir ein bleiches, teigiges Gesicht
entgegen. Dunkle Augenringe und bittere Falten um die Mundwinkel. Über dem Unterhosenbund wölbt sich eine unansehnliche Wampe. Ich fühle mich müde, kraftlos und unendlich alt, bin verzagt und resigniert, wenn ich an den langen Tag denke, der vor mir liegt.
    Vor fast genau einem Jahr sind in London vier Bomben explodiert. 55 Menschen starben in der U-Bahn und in einem Doppeldeckerbus. Eine zweite Anschlagswelle konnte vereitelt werden. Die Polizei erschoss einen Unschuldigen als vermeintlichen Selbstmordattentäter. Ich war nicht nur Reporter – sondern auch Teil dieser Stadt. So schockiert und gelähmt wie alle anderen. Die U-Bahn prägt das Leben in London. Jeder hasst sie, weil sie verrottet und unzuverlässig und für den Transport von Menschen eigentlich ungeeignet ist. Aber sie ist die Lebensader dieser Stadt, deren Bewohner nie in die Höhe gebaut haben und die sich deshalb so unendlich weit ausdehnt. In der das ganze Leben permanent um die Frage kreist, wie man von A nach B kommt. Viele Stunden in jeder Woche verbringe ich zusammengepfercht mit wildfremden Menschen in stickigen U-Bahn-Waggons. Im Sommer wird es bis zu 60 Grad heiß – der Schweiß meines Nachbarn tränkt mein Hemd. Manchmal bleibt der Zug für unbestimmte Zeit im Tunnel stecken. Oder wird umgeleitet auf eine andere Strecke. Oder die ganze Linie wegen Bauarbeiten gleich ganz eingestellt für Stunden, Tage – manchmal Wochen. Ich habe schon Tränen vergossen wegen London Underground. Sie haben die Macht, meine Pläne zu zerstören. Sie bestimmen mein Leben. Einen Großteil des Tages verbringe ich unter der Erde. Eine der Bomben hätte genauso gut mich treffen können
… Ich berichte wie am Fließband – aber ich empfinde es nicht als
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