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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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sollte. Ich bin überzeugt, dass es den meisten Selbstmördern so geht und die Frage von Leben oder Tod womöglich oft nur davon abhängt, ob jemand ans Telefon geht …
    Manchmal hängt die Frage von Leben oder Tod vielleicht wirklich nur davon ab, ob jemand ans Telefon geht …
    Ich fühlte mich außer Gefecht gesetzt. Sechs Wochen krankgeschrieben. Fürs Erste. Ich schluckte Antidepressiva, aß regelmäßig und nahm wieder zu. Dreimal wöchentlich ging ich zur Therapie, ansonsten hatte ich nichts zu tun und sehr viel Zeit, an der Rückeroberung meiner Ex zu arbeiten. Liebes-CD, Blumen, Briefe – das volle Programm. Nächtelang habe ich wie ein Besessener Seite um Seite mit Schwüren und Versprechungen gefüllt, von denen ich im selben Moment, da ich sie niederschrieb,
ahnte, dass ich sie kaum würde erfüllen können.
    Ich war bereit, mich bis zur Bruchlast zu verbiegen. Und dreimal wöchentlich sprach ich in meiner Therapie darüber, mich selbst zu finden. Zu mögen. Zu meinen Bedürfnissen und Schwächen zu stehen. Mich weniger abhängig zu machen von der Anerkennung anderer. Vormittags analysierte ich mein selbstzerstörerisches Treiben und nachmittags rief ich meine Ex bei ihrem neuen Freund an. Tief im Innern davon überzeugt, dass mein Leben wieder in Ordnung käme, wenn ich nur diese Frau zurückgewönne. Ich habe mich nicht mehr mit Freunden getroffen, keine Bücher mehr gelesen, meinen Sohn vernachlässigt. Außer ihr alles andere aus meinem Denken und Dasein verdrängt. Ich habe Stunden an Rückerobe-irungsstrategien gefeilt und sie ihren vermeintlichen Wünschen angepasst. Und die ganze Zeit über war ich in therapeutischer Behandlung.
     
    Ja, ich weiß, dass ich selbst verantwortlich für den Erfolg einer Therapie bin. Oder Misserfolg, wenn ich den Therapeuten und damit mich selbst belüge oder mich nicht wirklich einlasse. So einfach sollte es sich einmal ein Chirurg machen: Wenn Ihr neues Hüftgelenk schmerzt, sind Sie selbst schuld …
    Natürlich stimmte da in erster Linie bei mir was nicht – wenn ich all die klugen Therapie-Erkenntnisse über Jahre in den Wind schlug. Doch genau deshalb bin ich ja zum Therapeuten gegangen: Weil mir bewusst war, dass da was nicht mit mir stimmt. Und zum nächsten und übernächsten, bis ich irgendwann in der Klinik gelandet bin.
Um mich all den Ängsten zu stellen, vor denen ich Jahre davongelaufen bin. Krise als Chance. Um danach mit denselben Lügen, Dramen und dem Selbstbetrug einfach weiterzumachen. Und es ist mir nicht einmal aufgefallen, dass in meinem Leben alles beim Alten blieb. In jedem Abschlussgespräch habe ich aus tiefstem Herzen bestätigt, dass es mir schon sehr viel besser gehe und ich eine Menge mitgenommen hätte. Wieder eine erfolgreiche Therapie in der Bilanz. So erhält sich das System am Leben. Schön, dass wir mal darüber geredet haben …
     
    Ich habe über viele Jahre mein ganzes Leben quasi therapiert. Mich ständig gefragt, was meine Bedürfnisse sind, ob ich nah genug bei mir bin oder dieser und jener Mensch mir guttun. Ich war so sehr mit mir selbst und meinen Seelenzuständen und Verletzungen beschäftigt, dass ich kaum noch in der Lage war, andere Menschen wahrzunehmen. Ich machte mich lächerlich mit peinlichen Frauengeschichten und merkte es nicht. Bin immer nur um mich selbst und meine Befindlichkeiten gekreist, habe Stunde um Stunde neue Verletzungen hervorgekramt – wobei es doch schlicht um den Ausgleich von Interessen gegangen wäre. Ich habe gelogen und betrogen und bin im Gefühlsleben anderer Menschen herumgetrampelt. Ich habe mich im Beruf illoyal verhalten. Ich habe mich – um ein altmodisches Wort zu benutzen – schlicht unanständig benommen. Trotzdem hielt ich mich im Grunde meines Herzens für einen guten Kerl mit den besten Absichten. Die Therapie bewies den festen Willen, diesen anständigen Kern freizulegen. Ich tat ja was: Ich arbeitete an mir. Ich hielt die Reflexion
schon für Aktion. Saß nicht einfach im Sessel herum und quatschte, sondern »arbeitete« meine Probleme auf. Analysierte gründlich und von allen Seiten einen unbefriedigenden Zustand – um dann ohne schlechtes Gewissen darin zu verharren.
    Tatsächlich hat meine »Arbeit« nichts bewegt, nichts gelöst. Mein Bewusstsein aber hat sich verändert. Meine Perspektive auf die Dinge verschoben. Weil ich den Lösungsansatz für sämtliche Probleme und Konflikte ausschließlich in meinem Inneren suchte. Aber irgendwann trifft dich der Schock,
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