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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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zurückzufliehen. Wo du dich die nächsten Wochen weit weg von allen Alltagssorgen wieder ausschließlich um dich selbst kümmern kannst. Es ging in unseren Gesprächen so gut wie nie um Perspektiven nach unserem Klinikaufenthalt oder das Leben nach der Therapie. Die Krankheit führte gewissermaßen ein Eigenleben, und es gab eine Hierarchie des Leidens. Wenn ich unseren Speisesaal mit einem fröhlichen »guten Abend« betrat, dann schaute mich garantiert eine der Altgedienten an und sagte mit vorwurfsvoller Grabesstimme: »Na, dir scheint es ja gut zu gehen.«
    Um sich selbst kreisen
    Meiner Mitpatientin Gerhild jedenfalls ging es ganz und gar nicht gut. Sie war eine beeindruckende Erscheinung. Fast 1,80 Meter groß, schlank, schön, ehemaliges Fotomodell. Sie hatte die ganze Welt bereist und viel Geld verdient, war bewundert und umschwärmt worden. Sie konnte geistreich und unglaublich witzig sein, wenn sie gut drauf war. Aber meistens war sie das nicht. Als ich sie kennenlernte, war sie bereits seit vier Jahren in Therapie und das dritte Mal in der Klinik. Ihre Depression hatte begonnen, als ihre Model-Karriere mit Mitte 30 geendet hatte. Sie sprach mit großer Verachtung und Wut von diesem Leben voller oberflächlicher Äußerlichkeiten – und war zugleich fassungslos und gekränkt, weil es vorüber war. Und völlig ratlos, was sie stattdessen mit
ihrem Leben anfangen könnte. Sie tat, was sie immer getan hatte: Sie drehte sich um sich selbst. Hatte keinerlei Interesse an ihrer Umwelt, das Leben außerhalb der Klinik empfand sie als Bedrohung. Sah es als großen Fortschritt, dass sie keine Erwartungen mehr erfüllte, sondern nur noch machte, was ihr guttat. Sie verkroch sich tagelang im Bett und tauchte dann völlig überraschend in großer Maske auf, hielt Hof und genoss die Bewunderung. Aber meist wandelte sie wie ein bleicher Geist mit Medikamenten zugedröhnt und kaum ansprechbar durch die Gänge.
    »Komm, Gerhild, lass uns mal raus ans Meer fahren«, schlugen ein paar von uns ihr einmal am Wochenende vor. »Du nimmst meine Probleme nicht ernst«, antwortete sie. Das tat nur ihr Therapeut. So lange, bis die Krankenkasse keine Therapie mehr zahlte. Als ich sie das letzte Mal traf, lebte sie von Sozialhilfe. Austherapiert, am Ende. Ist das nun ein Erfolg? Und hätte es so weit kommen müssen?
    Muss eine Therapie ihrem Patienten nicht womöglich mehr abfordern? Durfte man Gerhild erlauben, so ganz und gar in sich selbst zu versinken? Bräuchten nicht Menschen in Lebenskrisen viel eher einen ganz pragmatischen Lebenscoach, der sie an der Hand nimmt und auch mal anstupst, damit sie wieder Tritt fassen? Ich habe mich oft gefragt, warum Dr. B. mir vorschlug liegen zu bleiben – statt mir beim Wiedereinstieg in das Leben »danach« zu helfen? Etwa frühzeitig den Kontakt zu meinem Arbeitgeber aufzunehmen oder die Brandbriefe und Mahnungen aus dem Briefkasten zu Hause mit mir durchzugehen. Ich und viele meiner Mitpatienten in der
Klinik hätten viel dringender jemanden gebraucht, der ihnen zeigt, wie man die realen Probleme im Leben löst. Denn für die meisten Menschen in einer solchen Situation geht es nicht nur darum, ihre Seele und ihre Verletzungen aufzuarbeiten – sondern darum, psychisch angeschlagen ihre Existenz zu retten. Welchen Sinn macht alles Graben in meiner Seele, wenn ich am Ende die Miete nicht mehr bezahlen kann und vor einem Scherbenhaufen stehe?
     
    Das Leben »danach« war jedenfalls selten Thema unserer Gespräche in der Klinik. Therapieerfolg maß sich am Erkenntnisgewinn – nicht am Entlassungstermin. Wir fühlten uns ungeheuer überlegen gegenüber denen da draußen, die einfach nur funktionierten – während wir den Mut hatten, unsere Schwäche zuzulassen und nicht mehr wegzulaufen. Tatsächlich aber hatten wir alle eine Menge Angst – vor diesem Danach.
     
    Je länger ich blieb, desto ferner rückte das Leben draußen. Ich ging zu Dr. B. und zur Kunsttherapie und malte Mondaufgänge über stürmischem Meer (»Oh ja – da ist wieder Licht im Dunkel …«). Ich tauschte mich aus in der Gruppe, machte lange Waldspaziergänge, hing mit den anderen im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher ab. Meine einzige Verantwortung war einmal in der Woche »Küchendienst«: Ich musste den fix und fertig vorbereiteten Servierwagen aus der Küche in den Speisesaal schieben und hinterher mit dem Schmutzgeschirr wieder zurück. Das Wochenende war frei und ich konnte etwas mit Freunden und Familie
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