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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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Abgesehen davon lasse ich mich nicht gern von Fremden in den Arm nehmen, ich mag das nicht.«
    »Weil Sie keine Nähe zulassen können …?«
    Wer weiß das schon, und was spielt das auch für eine Rolle?
     
    Chefredakteur, Betriebsarzt, die Leiterin der Personalabteilung – alle waren da, um mit mir über meine zukünftigen Aufgaben zu sprechen. Ich war für meinen Arbeitgeber das Problem, das es zu lösen galt – so sah ich das. Fühlte mich schuldig, suchte nach Vorwurf in den Blicken und Sätzen meiner Gegenüber. Aber da war nur freundliches Interesse. Natürlich, ich war schließlich psychisch krank …
    Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich spürte Schweißflecken unter dem Sakko wachsen. Was immer sie mir anböten, würde ich ohne Murren akzeptieren. Keinen Stress machen. Hatte keine Kraft für einen Konflikt, wüsste ohnehin nicht, was ich wollen sollte. Ich wollte da nur wieder raus und so schnell wie möglich zurück in die Klinik.
    »Ich erlebe Sie so erstaunlich wutlos!«, sagte der Betriebsarzt zum Abschied.
    Shiny, shiny light
    Bei dem Stichwort »Abschied« fällt mir Ilses Abschiedsparty in der Klinik ein. Ihr Mann hatte sie verlassen, und danach war sie depressiv geworden. Ich muss immer grinsen, wenn ich an sie denke, obwohl das gemein ist, weil Ilse schon ziemlich arm dran war. Keiner mochte sie. Sie war übergewichtig, sprach mit schriller Stimme, trug ausschließlich Rosa und schminkte sich auch die Wangen rosa. Und weil Menschen nun mal gehässig sind, hatte sie den Spitznamen »Ferkel«. Natürlich ist das nicht nett, aber sie hat es ja geradezu provoziert.
    Zu ihrem Abschied lud sie ihre Mitpatienten in den Gemeinschaftsraum ein. Die Schwestern holten uns alle aus den Zimmern und passten auf, dass sich auch keiner drückte. Ilse dankte ihrem Therapeuten, weil er ihr Mut gemacht hatte, sich zu trauen. Und dann fing sie an zu singen! Ich habe den Fremdschämvorrat eines ganzen Jahres in 20 unendlich langen Minuten verbraucht. Ich habe »Ferkel« aus tiefstem Herzen gehasst, weil sie mich zwang, an diesem entwürdigenden Schauspiel teilzunehmen. Ich stellte mir vor, meine Kollegen würden mich sehen – Händchen haltend mit den anderen Patienten im Kreis stehend, »shiny, shiny light« singend und dabei die Arme hochreißend. Und in der Mitte saß »Ferkel« ganz in Rosa mit einer Kerze in der Hand und traf keinen einzigen Ton.
    Als ich schon dachte, ich hätte es überstanden, musste jeder im Kreis eine Kerze nehmen und »Ferkel« ging herum und zündete sie eine nach der anderen an. Singend! Der klitzekleine Funke, der zur Flamme wird, sich fortpflanzt, das »shiny, shiny light« meines Lebens. Wir
anderen Patienten haben uns mehrheitlich nur sehr mühsam beherrschen können, nicht laut loszuprusten. Wir wollten »Ferkel« auch nicht entmutigen, wo sie sich doch endlich getraut hatte – wir wussten ja schließlich alle, wie wichtig so was für die persönliche Entwicklung sein soll. Ist doch toll, dass Ferkel sich endlich mal was traut. Also ich weiß nicht. Man stelle sich vor, sie bringt diese Shiny-shiny-Nummer bei sich zu Hause, wenn Gäste da sind, weil ihr Therapeut sie ermutigt hat, ihre Neigungen auszuleben. Der lässt die arme Frau doch in ihr Unglück rennen, statt ihr wirklich zu helfen. Wäre es nicht hilfreicher, ihr einmal ganz charmant zu sagen, dass sie sich besser fühlen wird, wenn sie zehn Kilo abnimmt und zum Friseur geht, und dass andere Farben ihr sehr viel besser stünden als Rosa?
    Aber jemand, der sich jede Woche die Macken und Krisen Dutzender wildfremder Menschen anhört, hat womöglich einen anderen Blickwinkel auf die Welt. Und deshalb ruft er oder sie auch nicht »Stopp« oder stößt mich zu Boden, wenn ich auf einen Abgrund zulaufe. Sondern fragt mich, ob ich mir das gut überlegt habe … Aber dann würde ich das wohl kaum machen, oder? Wenn ich wüsste, was richtig und falsch ist, würde ich nicht zum Therapeuten gehen und verzweifelt fragen: Was soll ich tun? Und er oder sie fragt zurück: Was glauben Sie denn, was Sie tun sollten?
    Reflexion bewegt nichts
    Ilse war schneller wieder in der Klinik, als ich draußen war. Wie so viele. Weil sie nicht wirklich vorbereitet waren auf das Leben draußen. Wo der Wind zuweilen
rauer weht und Dinge manchmal einfach gemacht werden müssen – egal wie »es« sich anfühlt. Und dann reicht mitunter schon ein kräftiges Lüftchen – Frust, Niederlage, Entäuschung –, um verängstigt in den sicheren Hafen
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