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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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der Verzweiflung über einen kaputten Wasserkocher, mein Hirn fraß sich fest an dem Tee, den ich unbedingt kochen musste. Hörte nicht mehr auf zu Schluchzen, aber kam nicht auf die Idee, dass man Wasser auch in einem Topf auf dem Herd erhitzen kann. Essen war viel zu anstrengend, wo Bier doch auch sättigte. Am Ende wog ich noch 65 Kilo bei 1,88 Metern Körpergröße. Trotzdem funktionierte ich noch irgendwie. Quälte mich morgens aus dem Bett und zog mich mit unendlicher Mühe an, um einen weiteren trostlosen,
rabenschwarzen Tag hinter mich zu bringen. Und danach eine end- und schlaflose Nacht …
    Bis zu diesem einen Morgen als verantwortlicher Redakteur für die Frühsendung. Der wichtigsten Sendung des ganzen Tages fürs Radio. Mir war schlecht vor Panik und mir stand der Schweiß auf der Stirn. Wie im Matheunterricht, wenn ich an der Tafel stand und keine Ahnung hatte, was der Lehrer von mir wollte. Dieses Mal hatte ich keine Ahnung, welche Nachricht wichtig und wie sie zu platzieren war, weil ich seit Wochen schon weder Zeitungen las noch Nachrichten hörte. Ich hatte nächtelang kein Auge zugetan und sah die Welt wie durch einen Nebel. All die irritierten, fragenden, erwartungsvollen Blicke. Und niemand sprach mich auf meinen Zustand an. Die Kollegen haben mich einfach ignoriert für den Rest der Schicht und die Sendung ohne mich gemacht. Ich hätte in den Boden versinken können vor Scham. Mit tränenden Augen bin ich aus dem Funkhaus geflohen. Ich würde nicht fähig sein, je wieder einen Fuß hineinzusetzen, davon war ich überzeugt. Ich fühlte mich auf ganzer Linie geschlagen. Trostlos im Wortsinne. Denn da war niemand, dem ich mich anvertraut hätte. Die Scham war zu groß. Ich fühlte mich schuldig, als Versager. Zwei Wochen zuvor hatte mich meine Freundin verlassen – die ganz große Liebe, dachte ich. Ich marterte mich mit Selbstvorwürfen, weil ich in meinem Tunnel nicht gesehen habe, wie weit wir auseinanderdrifteten. Nach der fürchterlichen Konferenz wollte ich in ein Bordell fahren. Dabei war der Gedanke an Lust völlig abwegig. Keine Ahnung, was mich trieb und was ich suchte – in der kruden Logik, die damals Besitz von
mir ergriff, mochte das alles schlüssig sein. Und ebenso folgerichtig wertete ich mein »Kneifen« als weiteren Beleg des absoluten Losertums. Nicht mal das traute ich mich … Ich habe mir dann ein Prepaid-Handy gekauft und mein Diensthandy ausgeschaltet – damit der NDR mich nicht orten kann. Mir war das bitterernst! Ich fühlte mich hilflos gefangen in einem riesigen, klebrigen Netz und wartete auf die Spinne.
    Ich war ziemlich neben der Spur. Irgendwann mischt ja auch der Körper in der Psyche mit und bildet keine stimmungsaufhellenden Hormone mehr. Und du kannst gar nicht anders, als alles nur noch grau und schwarz zu sehen. Aber bis dahin ist es ja ein langer Weg. Und vielleicht hätte irgendein noch so kleines Erfolgserlebnis in diesem Konglomerat aus Niederlagen, Scheitern und Versagensängsten die Abwärtsspirale stoppen können. Bevor ich regungslos unter dem Gerüst lag und ängstlich zuschaute, wie eine Strebe nach der anderen einknickte. Was war Ursache und was Wirkung? Waren berufliche Krise und Trennung Auslöser der psychischen Erkrankung oder Folge?
     
    Als ich mir an diesem sonnigen Mai-Nachmittag den Lauf meines Jagdgewehres in den Mund steckte, fühlte ich mich erstmals seit Monaten wieder heiter und gelöst. Das erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit war vorbei: Mit einem sanften Druck des großen Zehs auf den Abzug konnte ich das Elend beenden.
    Was ist Ursache, was Wirkung? Waren berufliche und private Krisen Auslöser oder Folge meiner Depression?

    Ich habe mich nicht erschossen. Ich habe eine Psychologin angerufen, bei der ich früher einmal in Therapie gewesen war. Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Nachmittag überlebt hätte, wäre mein Hilferuf ins Leere gegangen. Oder ob ich nicht irgendwann doch den Zeh gekrümmt hätte in meiner Verzweiflung und meiner Angst vor dem nächsten Tag. Ich wollte nicht sterben, da bin ich ganz sicher. Ich hatte den Lauf im Mund und fragte mich, ob ich den Knall noch hören würde. Ob ich Schmerz spüren würde, wenn das Geschoss mein Gehirn zerfetzt. Wer mich wohl finden und was ich ihm mit meinem Anblick antun würde. Und dass mein Sohn sein Leben lang erzählen würde, dass sein Vater sich erschossen hat, als er fünf Jahre alt war. Ich wollte nicht sterben – aber ich wusste nicht mehr, wie ich weiterleben
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