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"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

"Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"

Titel: "Arschtritt" - Senzel, H: "Arschtritt"
Autoren: Holger Senzel
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werden Scharen kreischender Teenies die Buchläden stürmen, und ich werde darüber berichten müssen. Und deshalb muss ich diesen Schwachsinn lesen. Damit ich den Hörern der Popsender schon vor dem Erscheinen verraten kann, was drinsteht. Er hat halt eine Menge Frauen
flachgelegt und Musik gemacht, war süchtig nach Applaus, nahm Drogen – und wusste deshalb selbst nicht, wer er war. Das Übliche: Geld und Ruhm machen auch nicht glücklich, wenn man sich selbst nicht findet. Elton John hat ihm das Leben gerettet und ihn zum Entzug gebracht. Der umjubelte Star schreibt von Selbstzweifeln, Sucht nach Anerkennung, finsterer Leere und schwarzer Traurigkeit. Aber statt mich ihm näher zu fühlen, macht es mich wütend. Soll er doch aidskranke Kinder in indischen Waisenhäusern pflegen, wenn ihm denn partout ein Sinn im Leben fehlt! Aber das ist natürlich nicht so schick, wie sich von Elton John in die Entziehungsklinik bringen zu lassen. Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich herzlich lachen. Als ob ich wirklich Grund hätte, am Leben zu leiden.
    Unendliche Mühsal
    Vielleicht bin ich auch bloß neidisch. Weil ich meiner lähmenden Schwermut nicht nachgeben darf. Mich maßlos überfordert fühle vom Leben und mir selbst. Mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und mich verkriechen möchte, aber irgendwie doch funktionieren muss, damit es nicht auffällt. Ich kann mir keine zweite Krise leisten. Weil sich natürlich jeder sofort wieder an meinen Zusammenbruch vor sechs Jahren erinnern würde. Ja, ich weiß, psychische Probleme sind keine Schande und genauso ernst zu nehmen wie körperliche Verletzungen. Ich habe genug Therapien gemacht, um das zu verinnerlichen. Ich habe diesen Zusammenbruch als Teil meines Lebens akzeptiert, habe nichts verdrängt. Nicht pechschwarz und finster fühlte sich die Depression an, sondern bleigrau
und konturlos. Kein tiefes Loch, sondern eine endlose Ebene dumpfer Resignation und Niedergeschlagenheit. Den Tod meiner Mutter oder die Diagnose Krebs hätte ich damals achselzuckend zur Kenntnis genommen, aber über den kaputten Fernseher habe ich bittere Tränen vergossen. Dabei war nur der Stecker rausgezogen – aber so weit konnte ich nicht mehr denken. Schon das Aufstehen bereitete mir unendlich quälende Mühsal – bedrohlich breitete sich der Tag vor mir aus. Beim Betreten des Funkhauses bekam ich Schweißausbrüche. Versteckte mich im Büro, ignorierte das Telefon – glasklar sah ich die Katastrophe kommen. Zu Hause türmte sich ungeöffnete Post; Telefon-, Strom- und andere Rechnungen oder Mahnungen. Vermutlich würde ich bald im Dunkeln sitzen, aber es überstieg meine Kraft, ein paar Überweisungen auszufüllen. Als wäre sämtliche Energie aus mir herausgesaugt. Wie in einem dieser Albträume, in denen du laufen willst und deine Füße tonnenschwer am Boden kleben …
    Den Tod meiner Mutter oder die Diagnose Krebs hätte ich damals achselzuckend zur Kenntnis genommen, aber über den kaputten Fernseher habe ich bittere Tränen vergossen. Dabei war nur der Stecker rausgezogen – aber so weit konnte ich nicht mehr denken.
    Ich habe kein Problem, darüber offen zu reden. Ich bin stolz darauf, dass ich mich zurück ins Leben gekämpft habe. Letztlich ist es eine Erfolgsgeschichte, für die ich Respekt erfahren habe. Aber wenn einem so etwas zum zweiten Mal passiert, stellt sich die Frage nach der Belastbarkeit – da sollte man sich nichts vormachen.
    Was wäre denn so schlimm daran?
    Was wäre denn so schlimm daran, eine andere Arbeit zu haben? Ich höre förmlich meinen Therapeuten in der Klinik. Mein Leben war ein Trümmerfeld, die Zukunft ein schwarzes Loch, und Dr. B. sagte mir, persönliches Glück müsse ich unabhängig von meiner beruflichen Position finden. Also überspitzt formuliert auch dann Zufriedenheit finden, wenn ich beim NDR den Hof kehre. Doch so sehr ich dem Hofkehrer wünsche, dass er mit sich im Reinen ist – ich wäre es nicht mit seinem Job. Das ist keine Geringschätzung, ich bewundere Leute, die zufrieden damit sind, ihren Achtstundenjob abzureißen, und ihre Energie in ein erfülltes Privatleben stecken. Aber Beruf war für mich immer mehr als Broterwerb. Ein wesentlicher Grundpfeiler von Lebenszufriedenheit. Ich bin Journalist – das ist nicht nur eine Jobbeschreibung, sondern ein Stück Identität.
    Depression und reale Probleme
    Ich hatte nach meinem Zusammenbruch nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Zunächst war ich dankbar für den
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