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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben
Autoren: Harald Weinrich
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DAS VORHABEN – MIT DIOGENES UND SEINER LATERNE
    Auf dem Umschlag dieses Buches ist der griechische Philosoph Diogenes zu sehen, so wie er auf einem Gemälde des französischen Malers Jean-Léon Gérôme (1824–1904) dargestellt ist.[ 1 ] Man erkennt ihn an seiner Tonne und an seiner Laterne. Die brüchige Tonne, die dem bedürfnislosen Philosophen als Unterkunft dient, ist auf dem Bild an ein repräsentatives Gebäude angelehnt, das zu einem städtischen Platz gehört. Zu vermuten ist, dass sich die Szene auf der Agora, dem zentralen Platz des alten Athen, abspielt.
    Diogenes ist nur mit einem Lendentuch bekleidet. Ein Hemd, das ihm anscheinend auch noch gehört, ist an einer seitlichen Stange aufgehängt. Keine weitere HABE * ist erkennbar. Doch hält der Philosoph eine brennende Laterne auf den Knien. Offenbar hat er sie gerade angezündet. Ihr Licht ist nur schwach zu sehen. Vier Hunde umlagern die Szene im Halbkreis. Sie vertreten zusammen mit Diogenes dessen philosophische Schule der «Kyniker» (von griech.
kyon
«Hund»). So beobachten sie auf dem Bild des Malers aufmerksam, was der Meister wohl VORHAT .
    Gleich wird der Philosoph aufstehen und bei Tageslicht mit seiner brennenden Laterne auf dem Platz umhergehen und dabei ausrufen: «Ich suche einen Menschen!» Woran er den gesuchten Menschen erkennen will, ist nicht überliefert. Sucht Diogenes vielleicht einen Menschen, der ihm selber darin gleicht, dass er so gut wie NICHTS HAT ? Sind etwa die NICHT-HABENDEN oder HABENICHTSE überhaupt die besseren und menschlicheren Menschen, die man selbst bei Tageslicht mit der Laterne suchen muss?
    Vielleicht hat sich Diogenes jedoch bei seiner Suche nach einemMenschen von der Philosophie seines etwas jüngeren Zeitgenossen Aristoteles anleiten lassen und mit dessen bekannter Beschreibung einen Menschen gesucht, der als ein Lebewesen gelten kann, das «Vernunft HAT » (
logon ECHEI
). Dann ist ein Mensch, wie ihn die Philosophen suchen, eben doch nicht nur an dem zu erkennen, was er NICHT HAT , sondern weit eher an dem, was er HAT , zum Beispiel an seinem «Logos»[ 2 ]. Daran wird für uns Nachgeborene ersichtlich, dass außer nach dem materiellen immer auch nach einem immateriellen HABEN zu suchen ist und dass dieses vermutlich mindestens so sehr ins Gewicht fällt wie jenes.
    Um nun in jeder denkbaren Hinsicht herauszufinden, wie es sich überhaupt in der Welt mit dem HABEN und dem NICHT-HABEN verhält, haben wir dazu die Philosophie oder überhaupt eine eigene Wissenschaft nötig? Eine HABEN -Wissenschaft oder wie man sie nennen will? Es gibt sie noch nicht. Vielleicht kann dieses Buch ihr insofern zur Existenz verhelfen, als es zunächst diejenigen Wissenschaften befragt, die schon jetzt und seit langem zum Thema HABEN und NICHT-HABEN ein beachtliches Wissen angesammelt haben. Sodann aber müssen zu diesem alten Problem neue Fragen gestellt werden.
    Solange nun diese HABEN -Wissenschaft – vielleicht zu ihrem Vorteil – ein offenes Projekt der Forschung bleibt, wollen wir uns in diesem Buch fürs erste mit einem bescheideneren Ziel zufrieden geben. Wenn schon keine fertige Wissenschaft zur Hand ist, hilft doch vielleicht die Kunst. Und zwar im alten und klassischen Sinne des Wortes, das heißt als eine kategorial geordnete und übersichtlich gegliederte Darstellung vieler unterschiedlicher Lebens- und Denkerfahrungen, wie sie im Laufe der Zeiten mit dem HABEN gemacht und dokumentiert worden sind, also als eine KUNST DES HABENS (
ars habendi
), die allerdings eine KUNST DES NICHT-HABENS (
ars egendi
) umschließen muss.
    Diese Kunst des HABENS mitsamt ihrer negativen Gegenkunst, so viel steht von Anfang an fest, wird eher eine Kunst im Plural als im Singular sein. Denn für das HABEN gibt es schon jetzt viele Ansichten. Wie viele? Mindestens dreiunddreißig. Daher hat dieses Buch dreiunddreißig Kapitel. Sie sind jedoch zumeist kurz. Denn auch das Leben ist kurz. Doch die Kunst bleibt lang.
    * Alle typographischen Auszeichnungen durch KAPITÄLCHEN stammen in diesem Buch vom Autor und kennzeichnen durchgehend die gewählte Thematik.

 
     
     
ERSTER ABSCHNITT

Auf dem Philosophenweg
     
– 1 –

ALTGRIECHISCH HABEN – MIT ARISTOTELES UND SEINEN KRITIKERN
    Der erste, den wir um Auskunft über das HABEN bitten wollen, soll der griechische Philosoph Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) sein. Dieser Denker, der von der Nachwelt lange Zeit als der Philosoph schlechthin angesehen wurde (
«philosophus»
), hat für
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