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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben
Autoren: Harald Weinrich
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Überlegungen hat Trendelenburg sodann in seiner nunmehr deutsch abgefassten «Geschichte der Kategorienlehre» (1846) weitergeführt und auf den Punkt gebracht, dass die aristotelischen Kategorien keine reinen Geistesbegriffe sind, sondern die syntaktischen Grundbegriffe der griechischen Grammatik seines Zeitalters widerspiegeln.[ 5 ] So entspricht der ersten Kategorie der Substanz (oder des SEINS ) das Substantiv. In den Kategorien des Handelns und Leidens, die im aristotelischen Katalog den neunten und zehnten Platz einnehmen, erkennt Trendelenburg – für Linguisten besonders leicht einsehbar – das grammatische Verbalgenus mit Aktiv und Passiv wieder. Und für die achte Kategorie schließlich, das HABEN , findet er die grammatische Entsprechung in der griechischen Tempusform Perfekt, insofern sie das Resultat einer Handlung ausdrückt (vgl. Kap. 8).
    Werden mit einer solchen historischen Kritik nun die aristotelischen Kategorien in ihrer logischen und metaphysischen Relevanz entwertet? Das ist nicht die Meinung dieses Kritikers. Er bleibt vielmehr davon überzeugt, dass die Kategorien, so wie Aristoteles sie formuliert hat, durch den Nachweis ihrer sprachlichen Herkunft nichts von ihrem gedanklichen Rang eingebüßt haben, da der griechische «Logos» generell Sprachliches mit Gedanklichem widerspruchslos zusammengeführt hat.

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ANTHROPOLOGIE DES HABENS – MIT HERDER, SCHELER, PLESSNER
    Im September des Jahres 1770 kam es in einem Gasthof der Stadt Straßburg zu der schicksalhaften Begegnung zwischen dem 26-jährigen Theologen Johann Gottfried Herder und dem 21-jährigen Jura-Studenten Johann Wolfgang Goethe. Daraus entstand schnell eine Freundschaft, die beide schließlich nach Weimar führen sollte. Kurz zuvor hatte Herder von Straßburg aus – das war ein Fanfarenstoß – seine «Abhandlung über den Ursprung der Sprache» veröffentlicht, mit der er eine entsprechende Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften glanzvoll beantwortet hat.[ 1 ]
    Aus heutiger Sicht ist Herders Abhandlung vor allem das Gründungsdokument einer für den deutschen Kulturraum neuen Disziplin des Denkens, der philosophischen Anthropologie, die sich mit Entschiedenheit von den Prämissen des cartesianischen Rationalismus abkehrt. Nicht mehr, was der Mensch IST , soll nunmehr gefragt werden, sondern nach welchen Naturgesetzen er das GEWORDEN IST , was er IST . Und er ist Mensch geworden durch das, was er als einziges Lebewesen der Schöpfung aus sich heraus geschaffen HAT : die Sprache.
    Dass die Sprache in diesem Zusammenhang einen so hohen Rang einnehmen kann, ist altes philosophisches Gedankengut. Im Begriff des Logos sind bei den Griechen Vernunft und Sprache fest verbunden. Das ist der anthropologische Kontext, in dem auch die Kategorie HABEN einen festen Status erhält. Sie dient nun dazu, prägnant zum Ausdruck zu bringen, was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet.
    Um diese Zeit war Charles Darwin noch nicht geboren. Wir dürfen daher von Herder noch keine Evolutionstheorie erwarten, in der aus kleinen und kleinsten Mutationen und deren Korrekturen in den sehrlangen Zeiten der Erdgeschichte neue Arten entstehen. Was Herder in seiner Schrift über das Werden der Sprache und folglich auch über die Menschwerdung des Menschen darlegt, ist hingegen ein großes Panorama der Schöpfung, in dem sich jedes Lebewesen – Pflanze, Tier, Mensch – durch kategoriale Merkmale definiert, die es als Gattung oder Art entweder HAT oder NICHT HAT . Daraus ergibt sich eine vertikale Stufung, die im Prinzip von unten nach oben oder von oben nach unten betrachtet und auch beschritten werden kann. Allemal bedeutet Aufstieg zugleich Rangerhöhung, Abstieg bedeutet Rangminderung, sodass der theologische Appell dieser Wertungen dem Menschen nahe legt, sich in seinem Streben immer nach oben, zur Gottesnähe hin, zu orientieren. Auf keinen Fall soll er sich in seinem Verhalten den niederen Lebewesen, Tier oder Pflanze, angleichen. Dabei hilft ihm als das «Meisterstück des menschlichen Geistes» die Sprache, das heißt, die Vernunft, denn es gilt die Maxime: «Ohne Sprache HAT der Mensch keine Vernunft und ohne Vernunft keine Sprache.» Dieser Logos wird bei Herder auch «Besonnenheit» genannt und als diejenige Fähigkeit verstanden, die es dem Menschenwesen ermöglicht, alle seine körperlichen und geistigen Kräfte auf ein großes Ziel hin zu bündeln und sich auf diese Weise schließlich zur Krone der
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