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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben
Autoren: Harald Weinrich
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Schöpfung zu machen.
    *
    Um dieses sakkadische, das heißt stufenförmige Prinzip noch genauer zu verstehen, begeben wir uns für eine kurze Exkursion zurück in das Florenz der Hochrenaissance. Dort begeisterte der ebenso fromme wie genialische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) seine gelehrten Zuhörer mit einer seither berühmten Rede und Disputation über die «Würde des Menschen» (
De hominis dignitate
).[ 2 ] Das Privileg der Würde, das den Menschen auszeichnet, wird von dem Redner als die Gottesgabe definiert, die es ihm als einzigem Lebewesen der Schöpfung erlaubt, in der Welt diejenige Stellung einzunehmen, die zu HABEN (
habere
) er sich frei erwählt. Mit diesem Vorzug vermag der Mensch die ganze übrige Schöpfung «hinter sich zu lassen» (
posthabere
) und im Gotteslob nur noch mit Cherubim und Seraphim zuwetteifern. Wie kann das geschehen? Dazu dient dem Menschen, wie Pico in seiner frommen Philosophie lehrt, die biblische Jakobsleiter (nach Genesis 28, 10–15), deren Sprossen mit Gottes Hilfe hinauf und hinab bestiegen werden können. Wenn hinauf, dann «mit geflügelten Schritten» (
alatis pedibus
) in überirdische Höhen, wo der Mensch als «himmlisches Lebewesen» (
caeleste animal
) seinen würdigen Platz einnehmen kann. Das ist die einzigartige Freiheit, die nur der geistbegabte Mensch HAT und BESITZT (
habet et possidet
).
    *
    Aus den Aufschwüngen der platonisch-florentinischen Philosophie wieder hin zu den bescheideneren Dimensionen der Straßburger Anthropologie, zu Herder also. Aus seiner mittleren Höhe schaut er als Anthropologe zunächst hinunter zu den Lebewesen der niederen Schöpfung. Er hat keine Zweifel, dass deren Wesensmerkmale in erster Linie negativ zu bilanzieren sind, also durch das, was Pflanzen und Tiere im Unterschied zu den Menschen NICHT HABEN , was ihnen also FEHLT oder was bei ihnen WEGFÄLLT .
    Diese naturgesetzliche Mängelbilanz wird in Herders Text gelegentlich auch nominal zum Ausdruck gebracht, vorzugsweise durch solche Substantive wie «Kreis» oder «Sphäre», die grundsätzlich eng und einförmig vorzustellen sind. Sie nehmen den bei Herder noch nicht verfügbaren Begriff der Umwelt (Jacob von Uexküll) vorweg. Das ist also gemeint, wenn Herder einmal schreibt: «Jedes Tier HAT seinen Kreis», was allerdings auch positiv verstanden werden kann, da das Tier sich mit Hilfe seiner Triebe und Instinkte in diesem mehr oder weniger beengten Rahmen durchaus adäquat (heute würden wir sagen: artgerecht) bewegen kann. Für eine Sprache im vollen Sinne des Wortes gibt es jedoch unter diesen Bedingungen bei den Tieren keinen Bedarf. Es gilt sogar das Naturgesetz: «Je kleiner die Sphäre der Tiere ist, desto weniger HABEN sie Sprache NÖTIG ».
    In gewisser Weise, meint Herder weiterhin, sind die Tiere sogar um die Vorzüge ihrer «Eingeschlossenheit» zu beneiden. Denn in seiner Sphäre ist der Löwe König, und den Vogel Strauss kann kein Mensch im Lauf einholen. Verglichen also mit den Leistungen, die jedem Tierin seiner jeweiligen Sphäre abverlangt werden, erscheint ihm der Mensch als ein Lebewesen, an dessen Organausstattung die «Mängel und Bedürfnisse» nicht zu übersehen sind, zumal am Anfang seines individuellen Lebens, wenn das neugeborene Kind schwach und hilflos in die Welt «geworfen» ist. Anders also als beim Vogel Strauss, «der seine Eier in die Wüste legt», bedarf jedes menschliche Junge für lange Zeit menschlicher Hilfe und «geselliger Erbarmung».
    In aufsteigender Betrachtung sind jedoch alle diese natürlichen Defizite, unter denen das Menschenkind als Naturwesen zu leiden hat, ebenso viele Anreize, gerade diejenigen Geisteskräfte mächtig auszubilden, mit deren Hilfe er ein »Lehrling der ganzen Welt» werden und «Sinne für alles» entwickeln kann. Dazu gehört wesentlich, nächst der «Bildung», auch die beständige «Fortbildung» der Sprache, die ihm am meisten dabei behilflich sein kann, sich für «eine Welt von Geschäften und Bestimmungen» aufs beste auszurüsten.
    In diesem Zusammenhang schlägt Herder zwischen dem NICHT-HABEN und dem HABEN eine konditionale Gedankenbrücke, deren Konstruktion wir heute kompensatorisch nennen würden. Er ist nämlich überzeugt, dass nach den Naturgesetzen der Schöpfung im Verlust oft schon der Keim des Gewinns zu erkennen ist. Es kann demnach gar nicht anders sein, «als dass, wenn der Mensch Triebe der Tiere HÄTTE , er das NICHT HABEN KÖNNTE , was wir jetzt
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