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Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Titel: Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Höhlengleichnis.
    Doch meine Schüler verstanden es anders. Denn nie löste eine Stunde über Kants kategorischen Imperativ oder Nietzsches Übermenschen solche Reaktionen aus wie der Unterricht über die Psychoanalyse. Wenn ich die Entstehung der homosexuellen Identität oder den Ödipuskomplex durchnahm, wenn ich den Zusammenhang zwischen kindlichem Trauma und Störungen der Libido erläuterte oder den Prozess der Überführung der klitoralen in die vaginale Phase als notwendige Bedingung für eine weibliche Sexualität, die diesen Namen verdient; wenn ich die Frage der Perversionen eben jener Sexualität ansprach oder den Widerstand gegen den psychoanalytischen Diskurs als Zeichen der Notwendigkeit, sich auf die Couch zu legen, dann ging es nicht um die vagen Inhalte eines vom Bildungsministerium vorgegebenen Korpus, sondern um die biografischen und existentiellen Lebensfragmente jedes Einzelnen meiner Schüler. Die theoretisch gelehrte Psychoanalyse wurde praktisch zur Psychoanalyse der Schüler, zur Analyse der Psyche dieser jungen Frauen und Männer. Mir war klar, dass dieses Denken eine Art Hexenwerk birgt, welches man mit großer Vorsicht handhaben muss. Und mir liefen Schauer über den Rücken angesichts der Möglichkeit, hier zum Therapeuten und damit Zauberer, Hexer und Guru zu werden. Man verlangte von uns, leicht entflammbaren Seelen einen hochentzündlichen Stoff zu vermitteln. In dieser Zeit bekam ich eine Ahnung von der gefährlichen Macht der Psychoanalytiker. So entwickelte ich ein instinktives und tiefes Misstrauen gegenüber deren priesterhafter Kaste und Einfluss.
    Doch der Lehrplan führte uns auch in ruhigere, weniger magische, weniger verstörende philosophische Gefilde: Das Verhältnis
von Staat und Natur und die Notwendigkeit eines Gesellschaftsvertrags bei Rousseau oder der Unterschied zwischen natürlichen und notwendigen sowie natürlichen und nicht notwendigen Begierden bei Epikur verursachten weniger Turbulenzen. Freud war in das Leben meiner Schüler getreten, wieder verschwunden, als Abituraufgabe erneut aufgetaucht und danach wieder verschwunden, doch er hatte ihre verletzlichen Seelen emporgehoben, gestreift, berührt. Ich hatte mich nie ohne die Angst auf dieses gefährliche Terrain begeben, ihre in der Entstehung begriffene Identität in eine dunkle, magische Welt gestürzt zu haben, die unvernünftig, verstörend und zugleich sehr reizvoll ist für Persönlichkeiten, die sich gerade erst entwickeln.
    Ich tat damals letztlich nichts anderes, als Ansichtskarten von Freud weiterzugeben. Was meine ich mit dem Begriff Ansichtskarte in der Philosophie? Sie ist ein Klischee, das durch übertriebene Vereinfachung entsteht, eine Ikone ähnlich einem Heiligenbild, eine einfache und wirkungsvolle Fotografie. Sie gibt vor, auf der Basis einer Inszenierung, eines Ausschnitts, einer arbiträren Perspektive unter Beschneidung des lebendigen Ganzen die Wahrheit eines Orts oder eines Augenblicks darzustellen. Eine Ansichtskarte ist das trockene Bruchstück einer feuchten Wirklichkeit, eine szenische Darstellung, die ihre Kulissen verbirgt, ein Stück Welt, das gefriergetrocknet wurde und im besten Licht präsentiert wird, ein ausgestopftes Tier – bloßer Schein.
    Eine Ansichtskarte kondensiert die ganze komplexe Welt in einer einfachen Vignette. Was bedeutet das in der Philosophie? Sie liefert Abkürzungen und Zusammenfassungen, entweder in Form einer Anekdote – der Schierlingsbecher des Sokrates, das Fass des Diogenes, Platons gen Himmel gestreckter Zeigefinger, Aristoteles’ auf den Boden zeigender Finger, Christus am Kreuz – oder in Form einer Theorie: Sokrates’ »Erkenne dich selbst«, das naturnahe Leben von Diogenes, Platons erkennbare Welt. Auch Freud entgeht diesem philosophischen Bauchladen nicht.
    Die meisten Menschen geben sich auch bei Freud mit Ansichtskarten
zufrieden. Nur wenige versuchen, die Bewegung und Komplexität seines Denkens zu erfassen, indem sie das Gesamtwerk lesen und die Dialektik seiner Sicht auf die Welt als Ganzes entdecken. Der Unterricht in einer Abiturklasse und der Hörsaal einer Universität funktionieren wie Maschinen zur Herstellung solcher Ansichtskarten: Sie konzentrieren sich auf einige leicht zu vermittelnde und leicht zu kommentierende Klischees, die als grundlegend für die Verbreitung eines »Denkens« betrachtet werden. Die akademische Auslegung und Gegenauslegung stellt Ansichtskarten von Ansichtskarten her, sie reproduziert die
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