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Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Titel: Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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mein Philosophielehrer den Lehrplan bekannt. Er verkündete stets in der letzten Stunde im Juni, welcher Schüler der fleißigste gewesen war und sein Heft am besten geführt hatte. Dann diktierte er das Pensum für das folgende Jahr. Wir hatten also einen ganz ordnungsgemäßen Unterricht, bei dem unsere ernsthafte Strebsamkeit manchmal von der Gnade eines hinreißenden Gedankens durchbrochen wurde.
    Eines Tages gehörte Freud zur Liste der Autoren auf dem Lehrplan.
Das Journal offciel hatte für jeden, den es interessierte, eine Aufstellung von Themen und Autoren veröffentlicht, die nach Meinung der Schulbehörde den Grundstock des Philosophieunterrichts bilden sollten. Wollte jemand das Abitur machen – also das Initiationszeugnis, den napoleonischen Sesam-öffne-dich-Schlüssel, den gesellschaftlichen Talisman erwerben –, musste er einen Aufsatz oder eine Interpretation schreiben. Und diesmal standen auch Texte von Freud zur Auswahl.
    Auf der vom Bildungsministerium erstellten Liste, an der die Leiter der Schulbehörden und ihre Untergebenen sowie die Ministerialen und deren Sherpas mitgearbeitet hatten und an der auch die unumgänglichen Pädagogikexperten beteiligt gewesen waren, die wegen ihrer Gelehrsamkeit hinzugezogen worden waren und wegen ihrer Fähigkeit, das Rauschen jener Gesellschaft wiederzukäuen, die sie ausgewählt hatte – auf jener Liste also fand sich Sigmund Freud, und zwar unter zahlreichen Philosophen von der Antike seit Platon bis zur Postmoderne Foucaults.
    Der Freud, den ich zu meiner persönlichen Orientierung las, war also auch der Freud, den das Bildungsministerium und die Französische Republik für einen Teil des philosophischen Weltkulturerbes hielten und unter Millionen von Denkern aus fünfundzwanzig Jahrhunderten ausgewählt hatten. Wie kann man darin etwas anderes sehen als eine Qualitätsgarantie?
    Die Lektüreliste unseres Philosophielehrers enthielt: Platons Der Staat, Descartes’ Abhandlung über die Methode, Rousseaus Gesellschaftsvertrag und seine Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Freuds Totem und Tabu sowie dessen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Die erste Erkenntnis aus dem Philosophieunterricht lautete also: Freud ist ein Philosoph, wie Platon, Descartes oder Rousseau.
    Und so las ich, was wir lesen sollten. Im Fall von Freud sogar mehr, als die Leseliste vorsah. Ich las zusätzlich Der Witz
und seine Beziehung zum Unbewußten, Die Traumdeutung und Metapsychologische Schriften. Anscheinend konnte man Marx studieren, ohne Marxist zu sein, und Spinoza oder Platon, ohne der spinozistischen oder platonischen Philosophie anzuhängen. Doch bei der Freud-Lektüre hatte man nicht die Wahl, Freudianer oder Nicht-Freudianer zu sein, denn die Psychoanalyse erschien als universelle und endgültige Gewissheit. Sie war ein entscheidender wissenschaftlicher Fortschritt – heute glaubt auch niemand mehr an das geozentristische Weltbild. Die Psychoanalyse wurde nicht als Hypothese eines Mannes oder Fiktion eines Philosophen dargestellt, sondern als Gemeingut, als Wahrheit allgemeiner Ordnung. Sie galt als Entdeckung, ähnlich der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Als Disziplin beschrieb sie die ganze Welt bis ins kleinste Detail; außerdem war sie eine Therapie, die nicht nur behandeln, sondern auch heilen konnte – so sagte es Freud, so schrieb er es, so schrieben es auch seine Schüler und viele andere seriöse Autoren! Damit begnügten sich auch die Institutionen und Verleger. Und so erwarb man mit dem Abitur ganz wunderbare Gewissheiten.
     
    Im Oktober 1976, mit siebzehn Jahren, begann ich mein Studium an der Universität von Caen. In die Philosophie verliebte ich mich in einem Seminar meines alten Lehrers Lucien Jerphagnon über Lukrez. Hier entdeckte ich eine ganze Welt, die antike Philosophie, und vor allem ein Werk: Über die Natur der Dinge. Es plädierte für eine rigorose Ethik, für eine strenge Moral, eine hedonistische Askese, Tugenden ohne Gott, ein materialistisches und sensualistisches Denken, ein Weltbild ohne Götter, eine praktische Weisheit, ein existentielles Heilsdenken ohne theologische, transzendente Krücken. Tugenden ohne Teufel und ohne Drohungen mit der Hölle oder Versprechungen vom Paradies.
    Die Studienordnung verlangte, dass man neben Philosophie noch andere Fächer belegte. So schrieb ich mich für
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