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Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert

Titel: Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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existentiellen Fragestellungen navigieren. So betrachtet deklassiert die Philosophie als Disziplin in unserer kleinen Welt alles, was ausschließlich von Theorie, Auslegung, Kommentaren, gelehrtem Palaver und Haarspaltereien lebt. Der kleine Junge, der den monströsen Atem des Christentums im Nacken gespürt hatte; der aus einer armen Familie kam – sein Vater war in der Landwirtschaft beschäftigt, seine Mutter war Hausfrau, und obwohl beide hart arbeiteten, kamen sie gerade so über die Runden –; der sein gesamtes Sexualleben hatte beichten müssen – es entsprach dem aller anderen jungen Leute in diesem Alter –; und dem man gesagt hatte, die Masturbation führe direkt ins Höllenfeuer – dieser kleine Junge entdeckte in Nietzsche, Marx und Freud drei Freunde.
     
    Und das kam so: Der Antichrist endet mit einem einseitigen »Gesetz wider das Christentum«! Für mich war das damals natürlich ein gefundenes Fressen. Der erste der sieben Gesetzesartikel lautet: »Lasterhaft ist jede Art Widernatur. Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: er lehrt die Widernatur. Gegen den Priester hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus.« ( Der Antichrist, Erster Satz aus dem »Gesetz wider das Christentum«) Ich hatte das Bedürfnis, diesem starken Menschen die Hand zu schütteln. Er hatte dem Kind die Würde zurückgegeben, die man
ihm hatte stehlen wollen. Ein weiterer Vorschlag Nietzsches: den Vatikan niederzureißen und auf seinem Grund und Boden giftige Schlangen zu züchten! Ein anderer Artikel propagiert: »Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff ›unrein‹ ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.« ( Der Antichrist, Vierter Satz aus dem »Gesetz wider das Christentum«) Es wird wohl niemanden wundern, dass dieser Mann mir zum Freund wurde – und er ist es geblieben.
     
    Zu Marx’ Äußerungen im Manifest der Kommunistischen Partei verspürte ich die gleiche Nähe. Er erklärt, dass der Motor der Geschichte seit jeher der Klassenkampf war. Das schmale orangefarbene, bei Éditions sociales verlegte Bändchen ist übersät mit Bleistiftmarkierungen. Angestrichen hatte ich die Stellen über die Dialektik zwischen dem freien Menschen und dem Sklaven, dem Patrizier und dem Plebejer, dem Baron und dem Knecht, dem Zunftmeister und dem Gesellen, dem Unterdrücker und dem Unterdrückten. Das las ich nicht nur, sondern ich wusste auch instinktiv, dass es stimmte, denn ich erlebte es an mir selbst und zu Hause bei meinen Eltern. Der Lohn meines Vaters reichte gerade, um seine Arbeitskraft aufrechtzuerhalten, sodass er im nächsten Monat weiterarbeiten und das Überleben seiner Familie sichern konnte.
    Wir fuhren nie in den Urlaub, machten nie Ausflüge, gingen natürlich weder ins Kino, noch besuchten wir Theateraufführungen oder Konzerte; wir gingen nicht in Museen oder Restaurants, wir hatten kein Bad, nur ein Zimmer für vier Personen, eine Toilette im Keller, besaßen selbstverständlich keine Bücher – außer einem von den Großeltern geerbten Wörterbuch und einem Kochbuch –, wurden kaum eingeladen, und die zwei oder drei Freunde meiner Eltern hatten kaum mehr Geld als wir: Ich wusste also, dass Marx die Wahrheit sagte. Mein Vater besorgte den Haushalt eines
großbürgerlichen Molkereibesitzers, und so bekam ich mit, dass man dort anders lebte als bei uns zu Hause. Durch Marx entdeckte ich, dass weder das Schicksal noch irgendein Fluch dafür verantwortlich waren, dass manche alles oder vieles, jedenfalls zu viel besaßen, während andere nicht einmal das Nötigste hatten und Hunger litten.
    Die Marx-Lektüre machte einen Sozialisten aus mir – und der bin ich geblieben. Schnell entdeckte ich, dass auch andere Autoren eine solche Wirkung auf mich hatten, nämlich die Anarchisten im Allgemeinen und Proudhon im Besonderen. Im Abiturjahr las ich sein Buch Was ist das Eigentum? Es überzeugte mich davon, dass der libertaristische Sozialismus ungenutzte Möglichkeiten barg. In einer Welt, in der man angesichts des Zustands des Marxismus an der herausragenden Stellung von Marx hätte zweifeln können, war er von bemerkenswerter Aktualität. Ich glaube immer noch an das immens fruchtbare Potential Proudhons. Aber ich vergesse auch nicht, dass ich meine ersten politischen Erkenntnisse Marx verdanke.
     
    Und schließlich Freud! Entdeckt hatte ich
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