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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora
Autoren: Pandora
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mächtig ich mich mit diesem Stift in der Hand fühle, und wie eifrig bemüht ich bin, uns beide nüchtern und klar zu sehen, ehe ich mich an die Erfüllung deines Wunsches begebe.
    Dies hier ist also Paris in einer Zeit des Friedens. Es regnet. Der Boulevard wird von grauen, herrschaftlichen Häusern mit den typischen Doppelfenstern und schmie-deeisernen Balkons gesäumt. Lärmende kleine Autos rasen gefährlich schnell durch die Straßen. Cafés wie dieses quellen über von Touristen aus aller Welt. Alte Kirchen sind in zahllose Mietwohnungen aufgeteilt, ehe-malige Paläste in Museen umgewandelt, deren Hallen ich stundenlang durchstreife, versunken in die Betrachtung ägyptischer und sumerischer Kunstgegenstände, die sogar älter sind als ich. Die Architektur des antiken Rom ist allgegenwärtig, Banken residieren in Imitationen von Tempeln aus meiner Zeit. Und die Worte meiner lateini-schen Muttersprache durchdringen die modernen Sprachen. Der Dichter Ovid, mein geliebter Ovid, hat Recht behalten, als er prophezeite, dass seine Dichtkunst das römische Reich überdauern werde.
    Welche Buchhandlung du auch aufsuchst, du wirst seine Werke dort finden, gebunden in hübsche kleine Ta-schenbücher, die Studenten ansprechen.
    Rom hat seinen Einfluss ausgesät, der inmitten des modernen Waldes von Computern, Disketten, Mikroviren und Satelliten mächtige Eichen hervorgebracht hat.
    Hier ist es – wie zu allen Zeiten – leicht, das greifbare Böse zu finden oder die Verzweiflung, die der zärtlichen Erfüllung würdig ist.
    Und was mich angeht, so muss immer auch etwas wie Liebe für das Opfer im Spiel sein, ein wenig Erbarmen, und die Selbsttäuschung, dass der Tod, den ich bringe, nicht das große Leichentuch der Zwangsläufigkeit zer-reißt, das aus Bäumen, Erde, Sternen und menschlichen Ereignissen gewoben ist, das um uns wogt, jederzeit bereit, sich um die gesamte Schöpfung, um alles, was wir kennen, zu schlingen.
    Vergangene Nacht, als du mich plötzlich entdeckt hast, welchen Eindruck hattest du da? Ich war allein auf der Seine-Brücke, wandelte durch diese für uns so gefährliche Dunkelheit kurz vor Anbruch der Morgendämmerung.
    Du hattest mich gesehen, noch ehe ich deine Gegenwart spürte. Meine Kapuze hing herunter, und ich ließ meine Augen in dem trüben Licht auf der Brücke für einen kurzen Moment in ihrer ganzen Pracht erstrahlen.
    Mein auserwähltes Opfer stand am Geländer, fast noch ein Kind, doch verletzt und missbraucht von hundert Männern. Sie wollte den Tod im Wasser. Ich weiß nicht, ob die Seine hier, nicht weit von der Ile St. Louis und No-tre Dame, überhaupt tief genug ist, dass man darin ertrinken könnte. Vielleicht, wenn man dem letzten Kampf um sein Leben widerstehen kann.
    Doch die Seele dieses Opfers empfand ich wie Asche, als wäre ihr Geist schon verbrannt und nur der Körper zurückgeblieben, eine verbrauchte, von Krankheit Ver-sehrte Hülle. Ich legte den Arm um die junge Frau, und als ich die Angst in ihren schmalen schwarzen Augen sah, als ich die Frage aufsteigen sah, gaukelte ich ihr Idole vor. Die Schicht, die meinen Teint bedeckte, hinderte mich nicht daran, wie die Jungfrau Maria auszusehen, so dass sie in Hymnen und Gebete versank. Sogar meine Schleier sah sie in den Farben, die sie aus den Kirchen ihrer Kindheit kannte, als sie mir erlag. Und ich –
    die ich wusste, dass ich des Trunkes nicht bedurfte, aber nach ihr dürstete, nach der Seelenqual dürstete, die sie vielleicht in ihrem letzten Augenblick zeigen würde, nach dem köstlichen roten Blut, das meinen Mund füllen und mir eine Sekunde lang das Gefühl geben würde, ich wäre in meiner ganzen Ungeheuerlichkeit ein Mensch – ließ mich auf ihre Visionen ein. Ich bog ihren Hals, fuhr mit den Fingern über die wunde, zarte Haut, und dann, als ich meine Zähne in sie versenkte, von ihr trank – da wusste ich, dass du dort warst. Du schautest zu.
    Ich wusste es, und ich fühlte es, und in deinen Augen sah ich unser beider Abbild, wenn auch nur flüchtig, denn die Wollust durchströmte mich trotzdem und machte mich glauben, ich wäre lebendig, gewissermaßen im Einklang mit Wiesen voller Klee oder mit Bäumen, deren Wurzeln tiefer in die Erde reichten als ihre Äste ins Firmament.
    Im ersten Moment hasste ich dich. Du hast mich beobachtet, als ich in Genuss schwelgte. Du sahst mich, als ich mich fallen ließ. Du wusstest nichts von den langen Monaten des Hungers, der Mäßigung und Wanderschaft.
    Du sahst nur
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