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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora
Autoren: Pandora
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Ich werde alles zum Besten richten.« Dieses also lehrte mich GOTTES Gnade …

    JULIAN OF NORWICH
    Offenbarungen der Liebe Gottes

    1

    Kaum zwanzig Minuten sind vergangen, seit du mich hier, in diesem Café, zurückgelassen hast. Ich habe deine Bitte abgelehnt. Nein, niemals würde ich für dich die Geschichte meines sterblichen Lebens niederschreiben, wie ich ein Vampir wurde – wie ich mit Marius zusammentraf, nur wenige Jahre nachdem er seine Sterblichkeit eingebüßt hatte.
    Und nun sitze ich hier vor dem aufgeschlagenen Notizbuch von dir, in der Hand einen der ebenfalls von dir stammenden spitzen, langlebigen Tintenstifte, und bin entzückt über die reizvolle Spur der schwarzen Tinte auf dem teuren blütenweißen Papier.
    Natürlich hast du mir damit etwas Exquisites überlassen, David, es lädt regelrecht zum Schreiben ein. Das in dunkel gegerbtes Leder gebundene Notizbuch – geprägt mit einem Muster aus prächtigen, dornenlosen Rosen –, ist es nicht eine Form, die letztlich zwar nur Design ist, aber gleichzeitig von etwas Bedeutendem zeugt? Was zwischen diesen stattlichen Buchrücken geschrieben steht, hat Gewicht, so lautet die Botschaft des Einbands.
    Die festen Seiten sind mit hellblauen Linien versehen –
    du bist so praktisch, so aufmerksam, und vermutlich weißt du, dass ich so gut wie nie einen Stift in die Hand nehme, um etwas zu Papier zu bringen.
    Selbst das Geräusch der Feder hat seinen Reiz, dieses scharfe Kratzen, als führe man mit dem feinsten Feder-kiel über Pergament, wie ich es einst im alten Rom zu tun pflegte, wenn ich Briefe an meinen Vater schrieb oder dem Tagebuch meinen Kummer anvertraute … ach, dieses Geräusch!
    Das Einzige, was mir fehlt, ist der Geruch der Tinte, aber wir haben ja heute diesen Plastikstift, der dicke Bände füllen kann, ohne leer zu werden, während er die zarten und die kräftigen Linien ganz nach meinem Wunsch aufs Papier zaubert.
    Beim Schreiben denke ich über deine Bitte nach. Du siehst also, etwas bekommst du doch von mir. Ich spüre, wie ich allmählich nachgebe, fast wie unsere menschlichen Opfer uns nachgeben. Während draußen der endlose Regen niedergeht und hier drinnen im Café sich das endlose Geschnatter fortsetzt, ertappe ich mich ja vielleicht bei dem Gedanken, dass es womöglich gar nicht so qualvoll wäre, wie ich annahm – über den Zeitraum von zwei Jahrtausenden zurückzugehen –, sondern eher eine Wonne wie der Akt des Bluttrinkens.
    Nur dass dieses Opfer, nach dem ich jetzt meine Hän-de ausstrecke, nicht so einfach zu bezwingen ist: Es ist meine Vergangenheit – und sie wird sich mir möglicherweise mit einer Schnelligkeit entziehen, die meiner eigenen gleicht. Wie dem auch sei, ich stelle nun einem Opfer nach, mit dem ich noch nie konfrontiert war. Und darin liegt für mich auch der Reiz der Jagd beziehungsweise der Ermittlungen, wie man das heute nennt.
    Warum sonst sollte ich auf einmal jene vergangenen Zeiten so lebhaft vor mir sehen? Du gabst mir keinen Zaubertrank, um meinen Geist zu öffnen. Für uns existiert nur ein Zaubertrank, und das ist Blut.
    »Du wirst dich an alles erinnern.« Das sagtest du mir, als wir auf dem Weg zu dem Café waren.
    Du, der du erst seit kurzem zu uns gehörst und doch als Sterblicher ein so hohes Alter erreicht hast und ein so großer Gelehrter warst. Vielleicht ist es für dich nur natürlich, dass du so energisch versuchst, unsere Geschichten zu sammeln.
    Aber warum soll ich nach Erklärungen für einen Wis-sensdurst wie den deinen suchen, für den Mut angesichts blutiger Wahrheit?
    Wie gelang es dir, dieses Verlangen nach Rückkehr in mir zu entfachen, fast auf das Jahr genau zweitausend Jahre zurückzugehen – um von den einst in Rom als Sterbliche gelebten Zeiten zu erzählen und davon, wie ich mich Marius anschloss und welch geringe Chance er gegen das Schicksal hatte.
    Wie kommt es, dass die Anfänge, die ich so tief in mir begraben hatte und so lange verleugnete, mich plötzlich locken? Eine Tür springt auf, ein Licht erstrahlt. Herein.
    Ich lehne mich zurück.
    Ich schreibe, aber ich halte auch inne und blicke mich um, betrachte die Menschen in diesem Pariser Café. Ich sehe die tristen Unisex-Stoffe der heutigen Zeit, das frische amerikanische Mädchen in seinem olivgrünen militärischen Aufzug, mit dem Rucksack über der Schulter, der all ihre Besitztümer enthält; ich beobachte den alten Franzosen, der schon seit einer Ewigkeit hierher kommt, nur um sich an den nackten
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