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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora
Autoren: Pandora
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Ich hörte es, und ich sah, wie sich die Vogelscheuche in einem Tanz der Trauer krümmte und bog und die Hände aus Strohbündel an die nicht vorhande-nen Ohren presste. Sie wand sich vor Schmerz.
    Cassiodor war tot! Er war ganz still in seiner erleuchteten Zelle, bei offener Tür, an seinem Schreibpult gestorben. Nun lag er dort, der Uralte, grauhaarig, stumm, über seinem Manuskript. Mehr als neunzig Jahre hatte er gelebt. Nun war er tot.
    Diese Kreatur, die Vogelscheuche, war außer sich vor Schmerz und Trauer, sie schwankte hin und her und klagte, obwohl kein menschliches Ohr diesen Klang vernehmen konnte.
    Ich, die ich nie Geister gesehen habe, starrte das Wesen verwundert an. Da bemerkte es meine Anwesenheit und wandte sich um. Er – denn so wirkte das zerlumpte Mönchsgewand und der Strohkörper – streckte die Stroharme nach mir aus. Das Stroh fiel aus den Ärmeln.
    Sein hölzerner Kopf wackelte auf der Stange, die ihn aufrecht hielt. Er – es – flehte mich an: Er bettelte um eine Antwort auf die wichtigsten Fragen, die Sterbliche und Unsterbliche je gestellt haben. Sein Blick war erwar-tungsvoll auf mich gerichtet!
    Dann sah er noch einmal auf den toten Cassiodor und lief mir entgegen, quer über den abschüssigen Grasbo-den, und das Verlangen ging von ihm aus, strömte aus ihm hervor. Hatte ich denn keine Erklärung? Besaß ich nicht in einem verborgenen göttlichen Plan das Geheimnis um den Verlust des Cassiodor? Cassiodor, dessen Vivarium es mit der Schönheit und Herrlichkeit des Bie-nenvolkes aufnehmen konnte. Das Vivarium hatte ja dieses Bewusstsein aus den Bienenvölkern gesammelt!
    Konnte ich denn die Pein dieser Kreatur nicht lindern?
    »Es gibt Schreckliches in dieser Welt«, flüsterte ich.
    »Sie besteht aus Rätseln und ist abhängig von Rätseln.
    Wenn du Frieden suchst, geh wieder zurück zu den Bienenvölkern; trenne dich von deiner menschlichen Gestalt, und steige wieder in das bewusstlose Leben der zufrie-denen Bienen hinab, von denen du abstammst.«
    Er stand wie angewurzelt und hörte mir zu.
    »Wenn du nach Fleisch und Blut strebst, nach einem menschlichen Leben, einem harten Leben, das sich in Raum und Zeit vollzieht, dann kämpfe darum. Wenn du nach menschlicher Philosophie verlangst, dann bemühe dich und werde weise, damit dich nichts verletzen kann.
    Weisheit ist Kraft. Bringe dich, was immer du bist, in etwas ein, das ein Ziel hat.
    Aber eines sollst du wissen: Alles unter dem Himmel ist nur Theorie. Alle Mythen, jede Religion, jede Philosophie und die ganze Geschichtsschreibung – nichts als Lü-

    gen.«
    Das Wesen, ob männlich oder weiblich, hob die Stroh-hände, als wollte es seinen Mund bedecken. Ich wandte mich von ihm ab.
    Still ging ich durch die Weingärten davon. Bald würden die Mönche entdecken, dass ihr Superior, ihr Genius, ihr Heiliger, über seiner Arbeit gestorben war.
    Als ich mich umsah, bemerkte ich erstaunt, dass das Geschöpf aus Stroh die Haltung eines aufrechten Wesens beibehalten hatte und mich beobachtete.
    »Ich will nicht an dich glauben!«, rief ich dem Mann aus Stroh zu. »Ich will nicht zusammen mit dir nach Antworten suchen!
    Aber wisse: Wenn du ein Organismus meiner Art werden willst, dann liebe die Menschen, Männer und Frauen und ihre Kinder. Nicht Blut sei die Quelle deiner Kraft, nicht das Leid anderer! Erhebe dich nicht göttergleich über die Menge, die dir laut huldigt. Und lüge nicht.«
    Er lauschte. Er hörte mich. Er verhielt sich still.
    Ich aber rannte. Ich rannte den steinigen Hang hinauf und durch die kalabrischen Wälder, bis ich dieses Wesen weit, weit hinter mir gelassen hatte. Unter mir sah ich im Mondlicht majestätisch hingebreitet Cassiodors Vivarium liegen, das mit seinen Klostergebäuden und schrägen Dächern die Ufer der schimmernden Meeresbucht ein-fasste.
    Die Kreatur aus Stroh sah ich nie wieder. Ich weiß nicht, was es war. Ich will auch nicht, dass du mir Fragen darüber stellst.
    Du erzählst mir, dass Geister und Gespenster umgehen. Dass solche Wesen existieren, ist bekannt. Doch dieses war das Letzte, das ich von ihnen gesehen habe.
    Und als ich mich das nächste Mal in Italien herumtrieb, war Vivarium schon längst zerstört. Erdbeben hatten die letzten Überreste seiner Mauern zerbröckelt. War es zuvor von einer weiteren Welle ungebildeter Horden aus dem Norden Europas geplündert worden, von den Van-dalen? Oder hatte doch nur ein Erdbeben seinen Nieder-gang bewirkt?
    Niemand weiß es. Was geblieben ist,
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