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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora
Autoren: Pandora
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Himmelsrichtungen verwehte.
    Plötzlich wandte sich Marius von mir ab und ging schnellen Schrittes fort, die Treppe hinunter in das Heiligtum.
    Von Panik erfasst, rannte ich hinter ihm her. Da stand er, die Fackel und das blutige Schwert in den Händen –
    sie hatten so schrecklich geblutet –, und sah in Akashas Augen.
    »Oh, lieblose Mutter!«, flüsterte er. Sein Gesicht war von Asche und Schmutz besudelt. Er schaute zuerst auf die flackernde Fackel, dann zu der Königin.
    Akasha und Enkil zeigten mit keiner Miene, dass sie von dem Massaker dort oben wussten. Sie zeigten weder Zustimmung noch Dankbarkeit, noch irgendeine Form von Bewusstsein. Sie zeigten nicht, ob sie die Fackel in seiner Hand wahrnahmen oder seine Gedankengänge, wie sie auch sein mochten.
    Dies war ein Schlusspunkt für Marius, für den Marius, den ich zuder Zeit gekannt und geliebt hatte.
    Er entschied sich, in Antiochia zu bleiben. Ich selbst war dafür, fortzugehen und sie wegzubringen, für wilde Abenteuer, dafür, die Wunder der Welt zu sehen.
    Aber er sagte Nein. Er hatte nur eine Verpflichtung.
    Und die war, auf der Lauer zu liegen und auf weitere Bluttrinker zu warten, so lange, bis er auch den Letzten getötet hatte.
    Wochenlang sprach und rührte er sich nicht, es sei denn, ich rüttelte ihn, und dann bat er mich, ihn allein zu lassen. Aus seinem Sarkophag erhob er sich nur, um sich, mit Schwert und Fackel bewaffnet, hinzusetzen und zu warten.
    Es wurde unerträglich für mich. Monate vergingen. Ich sagte zu ihm: »Du bist kurz davor, dem Wahnsinn zu verfallen. Lass uns die beiden fortbringen von hier!«
    Dann, eines Nachts, als ich sehr zornig und sehr einsam war, schrie ich ihn törichterweise an: »Ich wünschte, ich wäre von ihnen und von dir befreit!« Ich verließ das Haus und kam drei Nächte lang nicht zurück.
    Ich schlief an dunklen, ungefährlichen Plätzen, die ich mir ohne große Mühe herrichtete. Jedes Mal, wenn ich an Marius dachte, sah ich ihn vor mir, wie er bewegungslos dasaß, ganz ähnlich wie sie, und ich hatte Angst.
    Wenn er doch nur echte Verzweiflung kennen gelernt hätte, wenn er nur ein Mal mit dem konfrontiert gewesen wäre, was wir heute das »Absurde« nennen. Wenn er nur schon ein Mal dem Nichts begegnet wäre! Dann hät-te ihn dieses Massaker nicht so demoralisiert.
    Schließlich legte sich eines Morgens, kurz vor Sonnenaufgang, als ich mich in meinem sicheren Versteck befand, eine merkwürdige Stille über Antiochia. Der Rhythmus, den ich dort bisher alle Tage vernommen hatte, fehlte. Ich versuchte zu überlegen, was das bedeuten konnte. Aber es würde später noch Zeit sein, das herauszufinden.
    Ich hatte einen fatalen Fehler begangen. Die Villa war leer. Marius hatte alle Vorkehrungen für einen Transport bei Tage getroffen. Ich hatte keinen Anhaltspunkt, wohin er gegangen sein konnte! Alles, was ihm gehörte, war fort, alles, was ich besaß, hatte er gewissenhaft zurückgelassen.
    Als er mich am nötigsten brauchte, hatte ich ihn im Stich gelassen! Immer und immer wieder umkreiste ich den leeren Schrein. Ich schrie, dass das Echo von den Wänden widerhallte.
    Er kehrte nie wieder nach Antiochia zurück. Es kam auch kein Brief.
    Nach etwa sechs Monaten gab ich auf und ging ebenfalls fort.
    Du weißt natürlich, dass die frommen Vampire, die sich dem Christentum geweiht hatten, nie mehr ausstarben, zumindest nicht, bevor Lestat in rotem Samt und Pelz auftauchte, um sie zu blenden und ihren Glauben zu ver-spotten. Das war im Zeitalter der Aufklärung, damals, als Marius Lestat bei sich aufnahm. Wer weiß, was für Vam-pirkulte noch existieren?
    Ich für meine Person hatte zu jener Zeit Marius ein zweites Mal verloren.
    Hundert Jahre vorher und natürlich Tausende von Jahren nach dem Zusammenbruch der so genannten »Welt der Antike« hatte ich ihn ein einziges Mal für eine einzige kostbare Nacht wieder gesehen.
    Ich sah ihn! Es war in jener überspannten, dekadenten Zeit Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs. Auf einem Ball bei Hofe in Dresden. Musik erklang – die fesselnde Verschmelzung von Klavichord, Laute und Geige –, zu der kunstvolle Tänze aufgeführt wurden, die aus nichts anderem als Verbeugungen und Kreisen bestanden.
    Auf der gegenüberliegenden Seite des Saales erblickte ich plötzlich Marius!
    Er hatte mich schon eine ganze Weile beobachtet und schenkte mir nun ein höchst trauriges, liebevolles Lä-
    cheln. Er trug eine aufgetürmte Lockenperücke, die genau in der Farbe seines eigenen
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