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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora
Autoren: Pandora
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dahinvegetierte.
    Ich musste die versunkene antike Welt selbst erleben.
    Ich musste die christlichen Kirchen und Schreine sehen.
    Einen Gelehrten wollte ich vor allem treffen. Wie Boethius stammte er aus alter römischer Familie, und wie er hatte er die Klassiker und die Heiligen studiert. Er war ein Mann, der Briefe schrieb, die um die Welt gingen, sogar zu dem Gelehrten Beda in England.
    Und er hatte ein Kloster gebaut, ein Zeichen von Schöpferkraft und Optimismus trotz Krieg und Zerstö-
    rung.
    Dieser Mann war, wie sollte es anders sein, der Gelehrte Cassiodor; sein Kloster lag genau an der Spitze des italienischen Stiefels, in dem paradiesisch grünen Kala-brien.
    Am frühen Abend, als ich es, wie geplant, erreichte, bot es den Anblick einer fantastisch erleuchteten kleinen Stadt.
    Im Skriptorium saßen eifrige Mönche über ihren Abschriften.
    Und dort, in seiner weit offenen Zelle, welche die Nacht einließ, saß über seinen Schriften Cassiodor, ein Mann jenseits der neunzig.
    Er war der barbarischen Politik, die seinen Freund Boethius vernichtet hatte, entkommen, da er dem Ostgo-tenkaiser Theoderich gedient hatte und dann aus dem Staatsdienst ausgeschieden war – er hatte überlebt um dieses Kloster, seinen Traum, zu errichten und um mit Mönchen in der ganzen Welt zu korrespondieren und das Wissen über die Antike mit ihnen zu teilen, damit die Weisheit der Griechen und Römer bewahrt wurde.
    War er wahrhaftig der letzte Mensch der Antike, wie einige sagten? Der Letzte, der Latein und Griechisch lesen konnte? Der Letzte, der beides zu schätzen wusste, Aristoteles und die Dogmen des römischen Papstes? Plato und den heiligen Paulus?
    Ich wusste damals nicht, dass man sich so genau an ihn erinnern würde. Und ich wusste nicht, wie bald er vergessen sein würde!
    Das an den Hängen gelegene Kloster Vivarium war ein Triumph der Baukunst. Es gab hier glitzernde Fischtei-che, denen es seinen Namen verdankte, die christliche, mit dem Kreuz geschmückte Kapelle, die Schlafsäle der Mönche und Räume für den müden Reisenden. Die Bibliothek war reich ausgestattet mit den Klassikern meiner Zeit, ebenso mit Evangelien, die heute verloren sind. Das Kloster war reich gesegnet mit Feldfruchten, allen Getrei-dearten, die man zur Nahrung brauchte, Weizenfeldern, gut tragenden Obstbäumen.
    Die Mönche kümmerten sich um das alles und widme-ten sich außerdem Tag und Nacht in ihrem großen Skriptorium der Abschrift von Büchern.
    Sie hielten auch Bienen. Hunderte von Bienenkörben standen an der sanften, von Mondlicht übergossenen Küste und bedeckten einen Hang, nicht kleiner als der Obsthof oder die Felder. Die Mönche ernteten den Honig, benutzten das Bienenwachs für ihre Altarkerzen und das Gelee Royal als Salbe.
    Ich schlich mich an Cassiodor heran und schaute ihm heimlich zu. Dann wanderte ich zwischen den Bienenkörben umher. Wie immer staunte ich über die komplizierte Organisation der Bienenvölker, denn ihr rätselhafter Tanz, ihr Pollensammeln und ihre Fortpflan-zung waren meinem Auge schon vertraut, ehe die Sterblichen sie erkannten.
    Als ich die Bienenkörbe hinter mir ließ und auf das ferne Signalfeuer von Cassiodors Lampe zusteuerte, blickte ich noch einmal zurück. Da fiel mir etwas auf.
    An den Bienenkörben sammelte sich etwas, etwas sehr Großes, Unsichtbares, Kraftvolles, das ich sowohl hören als auch spüren konnte. Nicht dass mich Furcht erfasst hätte, aber in mir blitzte die Hoffnung auf, dass etwas ganz Neues in die Welt gekommen war. Denn ich bin keine Geisterseherin und war es nie.
    Diese Kraft erhob sich aus den Bienen selbst, aus ihrem komplexen Wissen und ihren zahllosen sublimen Strukturen, als hätten sie sie irgendwie zufällig entwickelt oder sie mittels ihrer unendlichen schöpferischen Kraft, Sorgfalt und Ausdauer mit einem Bewusstsein versehen.
    Sie wirkte wie einer der alten römischen Waldgeister.
    Ich sah diese Kraft frei über die Felder fliegen. Ich sah, wie sie in die Gestalt eines Strohmannes einzog, einer Vogelscheuche, die die Mönche gemacht hatten: mit rundem, hölzernem Kopf, gemalten Augen, einer groben Nase und lächelndem Mund – ein vollständiges Geschöpf in Mönchskutte samt Kapuze, das hin und wieder bewegt wurde.
    Diese Vogelscheuche, diesen Mann aus Stroh und Holz, sah ich nun in wirbelndem Tanz durch die Felder und Weingärten eilen, bis sie Cassiodors Zelle erreicht hatte.
    Ich folgte ihr!
    Dann hörte ich, wie aus dem Wesen eine stille Klage aufstieg.
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