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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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man nicht alles glauben darf, was man im Internet liest, reicht es, um sich ungefähr ein Bild zu machen. Aber es gibt da noch was.« Er zeigte auf sein Herz. »Ich muss mich noch schonen. Deshalb habe ich mich entschieden, nichts mehr zu
unternehmen. Besser ein altes Herz als gar keines! Der Stress wäre mir zu viel. Außerdem habe ich wieder ein Hörgerät. Ein Nachbar hat mir einen Teil des Geldes geliehen. Ich zahle es ihm in Raten zurück, so gut ich kann.«
    Er ließ sich nicht mehr umstimmen.

    Auf der Rückfahrt beschäftigten mich die Worte des alten Mannes. Ich fühlte mich ein wenig schuldig. Ich hätte ja den Fall des korrupten Unternehmers annehmen und auch seine »Sonderzahlung« von 10.000 Euro akzeptieren können, um einen Teil des Betrags dann für den alten Mann in einem Rechtsstreit gegen die Versicherung zu verwenden oder ihm den Betrag für das Hörgerät zu geben. Die zweite Variante wäre wohl die eindeutig bessere gewesen, wenn man an das angeschlagene Herz des alten Mannes denkt. Aber ist das wirklich meine Aufgabe und ist das Teil der Gerechtigkeit, dass ich als unbeteiligter Dritter die Gier eines anderen ausgleiche, um wieder im wahrsten Sinn des Wortes ausgeglichene Verhältnisse herzustellen? Ist es das, was die Gerechtigkeit von uns verlangt: dass man das ausgleicht, was anderen Menschen fehlt, ohne dabei zu fragen warum es fehlt und wer es weggenommen hat? Nein, das kann nicht gerecht sein. Es kann und ist auch nicht Aufgabe unbeteiligter Menschen in einer gerechten Gesellschaft, das zu bezahlen, was andere sich aus Gier einverleibt haben. Aber genau das wäre es gewesen, wenn ich dem alten Mann ein Hörgerät bezahlt hätte. Ich hätte das bezahlt, was die Versicherung unrechtmäßig einbehalten hatte. Ich hätte die Versicherung in ihrem Gewinnoptimierungsstreben unterstützt. Gerechtigkeit bedeutet aber, dass jeder nicht nur selbst entscheiden kann, sondern auch für seine Entscheidungen einstehen muss. So angenehm das sein kann, so hart kann es auf der anderen Seite sein. So funktioniert Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite stand es mir aus rein menschlichen Gesichtspunkten
frei, den alten Mann zu unterstützen. Die Gerechtigkeit fordert es nicht, die Menschlichkeit dagegen gebietet es. Mit diesem Gedanken im Kopf kehrte ich um und klingelte erneut bei dem alten Mann.
    »Haben Sie etwas vergessen?«, fragte er verdutzt, als ich wieder vor ihm stand.
    »Ja, ich würde Ihnen gern helfen, beim Hörgerät!«
    Der alten Mann lächelte gütig, legte mir einen Arm auf die Schulter und schüttelte leicht den Kopf. »Junger Mann, ich weiß das zu schätzen, aber Sie haben schon genug getan. Ich freue mich über Ihr Angebot, aber ich halte es für besser, wenn Sie sich mit dem Geld eine Freude machen. Sie haben das bestimmt nötig, denn Sie sehen ein bisschen müde aus.«
    Auf dem erneuten Heimweg dachte ich viel über den alten Mann nach. Echte Helden und wirklich gute Menschen sind oft sehr leise und vor allem bescheiden, aber trotzdem nicht minder bewundernswert. Auch das lehrt uns die Gerechtigkeit.

38
    Es war wie verhext. Gegen den Strom zu schwimmen und sich vom Sog der gutdotierten, aber aus meiner Sicht verwerflichen Mandate, vom Geschachere um Strafminderung und von der Annäherung an gebräuchliche, aber für mich dennoch fragwürdige Methoden fernzuhalten verlangte mehr Kraft und Zähigkeit, als ich mir lange Zeit eingestehen wollte. War es denn in unserer Gesellschaft wirklich so, dass wer sich für Gerechtigkeit und für die Benachteiligten einsetzte und nur mit den blanken Waffen der Wahrheit und Vorschriftsmäßigkeit arbeitete, keine Chance hatte, als Anwalt wirtschaftlich erfolgreich arbeiten zu können?
    Trotz all meiner Bemühungen sank die Zahl der Mandate immer weiter und ich bekam leider nicht die Unterstützung meiner Kollegen, die notwendig und angemessen gewesen wäre. Statt sich aktiv um neue Fälle zu bemühen, nahmen sie nur, was hereinkam, und stritten sich sogar noch. Eigeninitiative ließen sie vollständig vermissen. Ich arbeitete wie verrückt, um den Laden am Laufen zu halten. Und ich machte einen weiteren Fehler. Ich glaubte an die Anständigkeit der Kollegen aus der alten Kanzlei.
    Ich hoffte auf ein Einsehen in der alten Kanzlei, doch dort hielt man es für mehr als legitim, dass man die Anfragen nach mir nicht weiterleitete. Schließlich hätte ich ja bleiben können. Den Mandanten wurde ein Termin gegeben und gesagt, ich sei weg, man wisse nicht wo.
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