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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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Behördensprache erinnernden Sätzen: Man hätte einen Gutachter beauftragt und der hätte festgestellt, dass ein Abzug bei der Kostenerstattung
des Hörgeräts zu machen sei. Schließlich hätte mein Mandant nun ein neues anstatt eines zwei Jahre alten Hörgeräts und dafür müsse er sich einen Abzug gefallen lassen. Dieser Gutachter hielt es nun für angemessen, 322 Euro abzuziehen.
    Ich war erbost und griff sofort zum Hörer, um den Versicherungssachbearbeiter anzurufen. Seine direkte Durchwahl war auf dem Schreiben vermerkt. Nach nur einem Klingeln hatte ich ihn an der Strippe.
    »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, fragte er betont höflich.
    Ich nannte meinen Namen und die Schadensnummer des Falles. »Ich wollte wissen, wie sich diese Abzüge denn zusammensetzen. Ihr Gutachter hat da eine mir nicht verständliche Zahl festgesetzt. Ich sehe hier keinen Anlass für einen Abzug, denn ein zwei Jahre altes Hörgerät funktioniert noch tadellos. Wo soll denn ein Wertverlust zu einem neuen sein? Wie kommt es dann, dass Ihr Gutachter so einen - entschuldigen Sie bitte - Stuss schreibt?«
    »Der Gutachter hat das so festgesetzt, da kann man leider nichts machen«, lautete die lapidare Antwort des Versicherungsmitarbeiters.
    »Doch«, platzte es aus mir heraus, »Sie können zahlen, wozu Sie verpflichtet sind, und so die Sache aus der Welt schaffen!« »Aber der Gutachter …«
    Ich unterbrach ihn, um ein weiteres Argument anzuführen:
    »Und wie bitte will Ihr Herr Gutachter wissen, wie ein Abzug anzusetzen ist, wenn er das Hörgerät niemals in den Händen hatte? Schließlich ist es verschwunden, da erscheint es doch sehr verwunderlich und unglaubwürdig, wenn auch noch ein so ungerader Betrag von 322 Euro abgezogen werden soll. Können Sie mir das erklären?«
    Das hatte gesessen, es herrschte Schweigen in der Leitung.
    »Hallo, sind Sie noch da?«, hakte ich nach.

    »Ja, ich bin noch dran. Vielleicht haben Sie recht, aber wir werden trotzdem nicht bezahlen. Und Sie können sich wahrscheinlich auch denken warum.« Er machte eine Pause und ich hielt mich ebenso zurück, denn ich wusste, was nun kommen sollte. Die Ungerechtigkeit schlechthin: in Anwaltskreisen auch die normative Kraft des Faktischen oder Gerichtskostenrisiko genannt.
    »Also«, fuhr er fort, »wenn Ihr Mandant 322 Euro einklagen möchte, dann hat er den gerichtlichen Sachverständigen, die Gerichtskosten und die Sachverständigenkosten vorauszubezahlen. Schließlich werden wir die Frage nach dem Abzug nur mit einem weiteren Gutachter klären können, denn wir haben ja schon ein Gutachten.« Seiner Stimme konnte man deutlich entnehmen, dass er ein Lächeln im Gesicht haben musste. »Also müsste Ihr Herr Mandant erst um die 1.000 Euro in die Hand nehmen, um später 322 Euro zu bekommen. Zudem trägt er ein gewisses Prozessrisiko. Wir denken, dass er nicht so töricht sein wird und Sie ihm als sein Anwalt unter diesen Gesichtspunkten auch von einer Klage abraten. Deshalb sehen wir keine Veranlassung, mehr als den von unserem Sachverständigen festgelegen Betrag zu bezahlen.«
    »Und die tatsächliche Rechtslage ist Ihnen dabei egal?«
    »Kommen Sie, Sie sind ein erfahrener Anwalt, Sie wissen, wie der Hase läuft. Wo kein Kläger, da kein Richter. Dabei ist es heutzutage doch völlig egal, ob man nicht klagen möchte oder nicht klagen kann.«
    »Das können Sie nicht machen. Schließlich hat das Krankenhaus zugegeben, für den Verlust des Hörgeräts verantwortlich zu sein. Ich werde mit meinem Mandanten sprechen und Sie hören von mir!«
    Wutentbrannt legte ich auf und rief in der Rechtsabteilung des Krankenhauses an. Aber von dort bekam ich die Mitteilung, dass die Versicherung mit der Begleichung des Schadens betraut
sei und sie nicht mehr machen könnten. Schließlich rief ich den alten Mann an. Ich bat ihn zu einer Besprechung.
    »Oh, das ist gerade schlecht. Sie wissen doch, das Herz«, sagte er leise in den Hörer, »ich kann zur Zeit das Haus nicht verlassen.« Und noch leiser fügte er an: »Sagt mein Arzt.«
    »Gut, dann komme ich zu Ihnen. Morgen gegen 10 Uhr?«
    »Wenn Sie das für mich tun wollen, gern, ich bin zu Hause.«

    Am nächsten Tag stand ich vor einem abgewohnten Haus in einem der weiter entlegenen Vororte. Es war kein typischer Vorort, um den die Großstadt erweitert worden war, sondern eine alte Gemeinde, an die die Stadt und ihr Speckgürtel langsam heranwucherte.
    Als ich auf den Klingelknopf unter dem Namensschild
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