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Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha
Autoren: Philipp Vandenberg
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F LUGANGST
    E s war einer jener Horrorflüge, die den Wunsch wach werden lassen, nicht geboren zu sein. Dabei hatte alles so harmlos angefangen. LH 963 war pünktlich um 15 Uhr 10 bei sonnigem Herbstwetter gestartet, und der Flug über die Alpen nach Rom versprach pures Vergnügen. Ich hatte in Tivoli, hoch in den Albaner Bergen, ein Hotelzimmer gebucht, um in der Abgeschiedenheit des malerischen Ortes über meinen neuen Roman nachzudenken, einen Stoff, der mir schon seit zwei Jahren im Kopf herumging. Doch es kam anders.
    Kaum hatten wir den Alpenhauptkamm überquert, begann die Lufthansa-Maschine, ein Airbus neuesten Baujahrs, plötzlich zu rütteln und zu schütteln. Über den Sitzreihen leuchtete die Schrift ›Bitte anschnallen‹ auf und über Bordlautsprecher meldete sich der Kapitän: »Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, umgehend Ihre Plätze einzunehmen und sich anzuschnallen. Über Oberitalien hat sich ein extremes Tiefdruckgebiet gebildet, und wir erwarten heftigste Turbulenzen.«
    Was das Fliegen anbelangt, zähle ich nicht gerade zu den Mutigsten – ich habe in Afrika und Asien so meine Erfahrungen gemacht –, und so ist es mir zur Gewohnheit geworden, stets angeschnallt zu fliegen. Leicht beunruhigt blickte ich aus dem Fenster in eine bizarre Landschaft aus grauen Wolkentürmen; doch schon bald nahmen mir feuchte Nebelschwaden die Sicht. Der Himmel verfinsterte sich, das Schütteln des Flugzeugs wurde immer heftiger, und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass mir die Situation nichts ausgemacht hätte. Bei solchen Gelegenheiten greife ich zu einem Taschenspielertrick, den mir vor vielen Jahren ein amerikanischer Psychiater während eines Fluges nach Kalifornien verriet: Ich nehme den nächstbesten Gegenstand und drücke diesen in meiner Hand, bis es schmerzt. Die Konzentration auf den Schmerz lässt jede Flugangst vergessen. Wieder ging ein Rütteln durch die Maschine. In der Innentasche meines Sakkos bekam ich gerade noch meine Kreditkarte zu fassen. Ich legte sie in die flache Hand und drückte zu. Einen Augenblick schien es mir, als hielte ich ein zweischneidiges Messer in meiner Rechten, aber der Schmerz genügte, um mich von der höchst unangenehmen Situation abzulenken.
    Wie aus der Ferne nahm ich die Gläser, Tabletts und Bestecke wahr, welche plötzlich, losgelöst von der Schwerkraft, sich selbstständig machten, gegen die Decke knallten und dort kleben blieben, als wäre dies die selbstverständlichste Sache der Welt. Aus den hinteren Reihen hörte man Angstschreie. Ein Luftloch – das Flugzeug befand sich in freiem Fall.
    Ich vermag nicht zu sagen, wie lange dieser schwerelose Zustand dauerte. Ich saß regungslos da, die Kreditkarte in meiner Hand. Doch dann erwachte ich aus meiner selbst verordneten Lethargie: Mein Sitznachbar zur Rechten, dem ich bisher keine Beachtung geschenkt hatte, griff unversehens nach meinem Unterarm und umklammerte ihn mit aller Gewalt, als suchte er Halt in diesem angsteinflößenden Zustand der Schwerelosigkeit. Ich sah ihn an, aber der Fremde blickte starr geradeaus. Sein Gesicht war aschfahl, er hatte den Mund leicht geöffnet, und man konnte sehen, dass sein grauer Oberlippenbart zitterte.
    Zehn, vielleicht fünfzehn Sekunden mag der freie Fall gedauert haben – es kam mir vor wie eine Ewigkeit –, dann ging ein heftiger Ruck durch das Flugzeug, es gab einen Knall, und die Gegenstände, welche eben noch an der Decke klebten, polterten zu Boden. Getroffen schrien einige Passagiere auf. Und im nächsten Augenblick war der Spuk vorüber. Ruhig, als wäre nichts gewesen, glitt das Flugzeug dahin.
    »Bitte entschuldigen Sie mein ungebührliches Verhalten«, meldete sich mein Nachbar jetzt zu Wort, nachdem er meinen Unterarm losgelassen hatte, »ich dachte wirklich, wir stürzen ab.«
    »Ist schon in Ordnung«, erwiderte ich generös und sorgsam darauf bedacht, meine Hand zu verstecken, in der sich, noch immer schmerzend, meine scharfkantige Kreditkarte befand.
    »Sie kennen wohl keine Flugangst?«, begann der Nachbar nach einer Pause, in der er wie ich den Fluggeräuschen lauschte, ob nicht neuerliche Turbulenzen zu erwarten seien.
    Haben Sie eine Ahnung, wollte ich spontan antworten, aber aus Furcht, die verbleibende Flugzeit könnte sich im wechselseitigen Austausch von schrecklichen Flugerlebnissen erschöpfen, erwiderte ich knapp: »Nein.« Als ich ihm noch einmal aufmunternd zunickte, fiel mir auf, dass er mit der anderen Hand ein Manuskript
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