Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
Vom Netzwerk:
darüber haben sie kein Wort fallen gelassen. Vielleicht, weil sie es selbst nicht wussten, vielleicht, weil sie es sich auch nicht vorstellen konnten.
    Es war einer dieser Anrufe gewesen, bei denen ein Festgenommener von seinem Recht Gebrauch macht, sich einen Anwalt zu nehmen und ihn telefonisch herbeizubitten. Viel Zeit bleibt ihm dafür nicht, denn die Polizisten drängen in der Regel auf ein schnelles Ende des Gesprächs. Hätte ein Festgenommener nicht das gesetzliche Recht auf anwaltlichen Beistand oder zumindest einen Anruf, würde das Gespräch in den meisten Fällen ganz entfallen. Denn Polizisten schätzen die Anwesenheit von Anwälten nicht, unterstellt man diesen doch, sie hätten nur das eine Ziel: die Schuld des Festgenommenen zu verschleiern und die weiteren Ermittlungen zu erschweren. Als Anwalt bekommt man diese Einstellung des Öfteren deutlich zu spüren.
    Mir war das jedoch zu diesem Zeitpunkt egal, denn ich war aus Berufung Anwalt geworden und ich glaubte an mich und die Gerechtigkeit. Ich war jung und hungrig nach Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, wie ich sie mir naiv vorstellte. Es war aber nicht nur mein Beruf, es war meine innere Berufung, die mich über meine Grenzen hinausführen sollte.

    Auf dem Weg zur Polizeidienststelle überlegte ich, um was es bei dem »großen Ding« gehen könnte. Vielleicht war es ein Raubüberfall oder sogar ein Mord? Gerade im deprimierend grauen Monat November werden brutale Verbrechen begangen, die uns aus der Alltagsroutine reißen und deren Grausamkeit die Menschen an die Zeit erinnert, als es noch keine Zivilisation gab. Eine Zeit, in der der Stärkste sich mit dem Brutalsten um die Vorherrschaft stritt. Unmenschliche Grausamkeiten glauben wir oft überwunden zu haben, doch dann holen sie uns unvermutet wieder ein. Wie eine Mahnung aufzupassen. Aufzupassen, dass wir nicht aus dem Ruder laufen. Aufzupassen, dass wir uns eine friedliche Koexistenz als Ziel stecken und nicht mit allen Mitteln nach Macht, Dominanz und Vorherrschaft streben.
    Die Medien stürzen sich förmlich auf diese brutalen Straftaten und schlachten sie regelrecht aus. Die Schlagzeilen sind dann voll mit sogenannten Blutüberschriften. Man liest vom »brutalen Axtmörder«, vom »Schlächter aus der Innenstadt« oder auch von der »hinterhältigen Giftmörderin«. Bis ins Detail werden das Grauen des Tatorts und der Tathergang beschrieben. Für die Person des Täters interessieren sich Journalisten und auch Öffentlichkeit nicht. Keine Silbe ist davon zu lesen, was den Täter dazu gebracht haben könnte, eine wahrlich nicht alltägliche Grausamkeit an den Tag zu legen. Aber wen interessiert schon die schlechte Kindheit eines Täters, wenn das Mitgefühl aller den Opfern und deren Angehörigen gehört?
    Für einen Anwalt ist das sehr wohl wichtig. Ein Täter darf nur nach seiner Schuld bestraft werden, so lautet die edle Maxime des Strafrechts, die jedem Jurastudenten eingebläut wird. Dazu gehört auch, dass die Probleme des Täters berücksichtigt werden. Und seine psychischen Krankheiten. Ob man einen depressiven Täter milder bestrafen sollte als einen, der das Glück hatte gesund zu sein, das war eine der typischen Fragen der
Professoren. Die Schuldfrage war der Teil der Gerechtigkeit, den man im Studium besonders intensiv beigebracht bekommt. Das Beurteilungsvermögen soll den logischen Juristen vom emotionalen Menschen unterscheiden. Ob die Juristen ihre elitäre Selbsteinschätzung aus diesem Punkt beziehen? Menschen handeln, Juristen urteilen. Dazu werden sie ausgebildet, denn schließlich endet das Jurastudium in unserem Land offiziell mit der »Befähigung zum Richteramt«. Ein guter Anwalt zu sein, das hingegen muss man sich selbst beibringen.
    In manchen Bundesländern müssen angehende Richter sogar eine Mindestzeit als Staatsanwalt hinter sich bringen, bevor sie auf den Richterstuhl dürfen. Die Frage, ob ein Richter, der zuvor zum Staatsanwalt »trainiert« wurde und die Sichtweise des Anklagenden verinnerlichen musste, um als Staatsanwalt zu bestehen, später eine unabhängige Meinung vom Täter haben kann, habe ich mir nie ernsthaft gestellt. Vielleicht, weil ich zu sehr beschäftigt war Anwalt zu sein, vielleicht, weil ich an das Gute im Menschen glaubte. Kann echte Gerechtigkeit entstehen, wenn ein ausgebildeter Richter auf einen Anwalt trifft, der sich selbst um seine Fähigkeiten kümmern muss? Oder beendet das die Rechtsfälle nur einfach schneller?

    Mit diesen Gedanken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher