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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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Einen Platz, an dem nicht Gier, Lügen und Egoismus als wesentliche Faktoren herrschten. Einen solchen Platz musste es einfach geben. An irgendeiner Stelle, irgendeinem Ort würde ich schon einen Platz für mich und meine Werte finden. Einen Platz, an dem man für die Menschen und die Menschlichkeit arbeitet, nicht nur für Geld, und an dem ich die in unserer Zeit herrschende unsägliche Gier vor der Tür lassen konnte. Mir wurde klar, dass dieser Platz nicht hier in dieser Kanzlei war.

    Nachdem ich meinem Vermieter die Ablehnung seines Mietangebots gefaxt hatte, räumte ich meinen Schreibtisch auf und ordnete die Zeitschriften im Wartebereich. Ich sah auf meine Uhr. Obwohl es erst halb zwei war, zog ich meine Jacke an und schloss die Kanzlei hinter mir ab.
    Ich schlenderte durch die Straßen und dachte nach. Wir leben heute in einer Welt, in der es den meisten schlecht und einigen wenigen sehr gut geht. Woran liegt es, dass Gerechtigkeit nicht funktioniert? Ist es das menschliche Wesen? Ist wirklich die Gier, das eigene Hab und Gut bedingungslos zu vermehren, ein stärkeres und vor allem besseres Gefühl? Sind meine edlen Ideale nur Hirngespinste und Realitätsflucht, während in Wirklichkeit das Niederträchtige und Triviale die Welt regiert? Aber die wesentliche Frage lautet: Kann man diesen ungerechten Zustand wirklich bekämpfen, oder muss man ihn einfach hinnehmen? Mit anderen Worten: Hat Gier die Gerechtigkeit
besiegt? Lohnt der Kampf für das Gute dann überhaupt noch, wenn sich das Schlechte so problemlos durchzusetzen scheint? Über all die Jahre hatte niemand gesehen, was in mir vorging. Ich hatte ein sehr gutes Versteck gebaut. Ein Versteck, das in der Hülle des Erfolgreichen und des Siegers daherkam. Meine inneren Zweifel und Bedenken hatte ich nicht gezeigt, sondern ich hatte immer berechenbar und sorgenfrei gewirkt. In dieser Zeit war ich zwar nach außen hin erfolgreich gewesen, aber nie wirklich zufrieden oder gar glücklich. Und als ich mich schließlich entschloss, meinem Anwaltsdasein eine andere Richtung zu geben, hatte ich versagt. Ich war an der mangelnden Unterstützung verzweifelt und mit meinen Idealen gescheitert. In meiner Funktion als Anwalt war die Maske des Sorgenfreien und Rücksichtslosen erfolgreicher und beliebter als der weiche Kern des Menschen, der sich für andere einsetzt, der mitleidet und Ungerechtigkeit nicht ertragen kann.
    Was konnte ich tun?

40
    Niedergeschlagen war ich noch einmal in mein Büro zurückgekehrt. Ich fühlte mich elend. Ich hatte den Kampf verloren und war kein Held mehr, der anderen helfen konnte - war ich doch nicht einmal im Stande, meine selbstgewählte Aufgabe zu erfüllen. Ich fühlte mich nutzlos, und nutzlos wollte ich nicht sein. Mir blieb nur noch der letzte Gang.

    Hier oben, vom Fensterbrett des fünften Stockwerks aus, konnte man weit sehen. Ich war nur noch einen Schritt davon entfernt, dorthin zu gehen, wo angeblich echte Gerechtigkeit herrschen soll. Ich schaute auf die Straße und wollte nicht mehr nachdenken. Ich nahm nur noch Licht, Geräusche, Wärme und einen leichten Wind wahr. Es war wunderschön. Würde es so auch später sein? In meinem Kopf begann sich alles zu drehen.

    Das Klingeln meines Handys holte mich in die Realität zurück. Es lag auf dem Schreibtisch.
    Ich zögerte einen Augenblick und dann machte ich den Schritt. Den Schritt zurück ins Zimmer.
    Als ich beim Schreibtisch war, erkannte ich die Nummer auf dem Handydisplay.
    »Hallo«, stammelte ich in den Hörer.
    »Hallo, ich bin’s«, sagte eine vertraute Stimme, »ich musste gerade an dich denken und wollte wissen, wie es dir geht?«
    »Danke, kann ich zurückrufen? Geht grad schlecht.«
    Ich legte auf, ließ das Handy aus den Fingern auf die Schreibtischplatte gleiten.

    Was um Himmels willen wolltest du tun?, fragte ich mich. Was ist mit den Menschen, die dich mögen und die gern mit dir in
eine Zukunft gehen würden, auch wenn die anders ist, als du sie geplant hast? Sei nicht töricht. Irgendwo gibt es einen Ort, wo du für Gerechtigkeit kämpfen kannst. Vielleicht als Anwalt in einer anderen Kanzlei, vielleicht an einem ganz anderen Platz. Nur weil du enttäuscht bist über die Gerechtigkeit und die Menschen, die damit zu tun haben, solltest du nicht übertreiben.
    Nein, ich wollte nicht aufgeben.
    Ich trat ans Fenster. Die späte Mittagssonne stand am Himmel und warf ein warmes Licht auf die Welt. Ich drehte mich um, ging ein letztes Mal durch die leeren
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