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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände
Autoren: Alexandra Marinina
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damit die Fahrt nicht so langweilig war.
    »Nichts Besonderes. Angeblich Wissenschaft.«
    »Wieso angeblich?«, fragte Dima verwundert.
    »Diejenigen, die es betreiben, halten es für Wissenschaft. Alle anderen aber finden, wir verschlingen ohne jeden Nutzen Staatsgelder und produzieren keine Wissenschaft, sondern leeres Geschwätz.«
    »Aber man schickt Sie immerhin auf Dienstreisen, also sieht man in Ihrer Arbeit doch irgendeinen Nutzen. Oder etwa nicht?«
    »Nein. Man braucht uns nicht als wissenschaftliche Mitarbeiter, sondern als billige Arbeitskräfte. Zum Beispiel bei Kontrollinspektionen, wenn zusätzliche Leute benötigt werden. So traurig das ist, unser Wissen wird nicht geschätzt.«
    »Warum das?«
    »Weil es drei Bereiche gibt, in denen sich jeder für einen Fachmann hält: Politik, Kindererziehung und die Bekämpfung der Kriminalität. Jeder meint, da sei alles völlig klar, man brauche nur seinen gesunden Menschenverstand. Und keine Wissenschaft. Haben Sie mal gesehen, wie abfällig gelacht wird, wenn jemand sagt: ›Doktor der Pädagogik‹?«
    »Sie sind also Doktor der Pädagogik?« Dima konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
    »Nein, ich bin Juristin. Aber meine Situation ist keinen Deut besser. Wissen Sie, für was die Beamten im Ministerium uns halten, wenn wir ihnen unsere Dokumente vorlegen? Für schreibwütige Bittsteller. Nach dem Motto: Schon wieder bringt ihr uns irgendwelchen Quatsch, dauernd schreibt ihr was, man kann sich kaum retten vor euch Wissenschaftlern, wir müssen die Kriminalität senken, und ihr stehlt uns Vielbeschäftigten wertvolle Zeit, zwingt uns, euren ganzen Blödsinn zu lesen. Und dann, zwei, drei Wochen später, schlägst du die Zeitung auf und liest ein Interview mit Mitarbeitern des Ministeriums, und darin werden schwarz auf weiß deine Worte aus diesem Dokument zitiert, nur dass du als Autor nicht genannt wirst. Und das Honorar kriegst natürlich auch nicht du.«
    »Sind die Honorare denn hoch?«
    »Ach wo, lächerlich. Aber darum geht es gar nicht! Es ist einfach widerlich, wenn man behandelt wird wie der letzte Dreck, wie ein Nichts, dem man Gedanken klauen kann ohne ein Dankeschön, von den Vorwürfen ganz zu schweigen. Und wissen Sie, was das Komischste ist? Die meisten dieser Verwaltungsmenschen hätten sehr gern einen akademischen Titel. Eine Doktorarbeit selber schreiben können sie natürlich nicht. Sie suchen sich einen renommierten Professor als Betreuer, und für ein paar Kisten Kognak, Südfrüchte und einen Urlaub am Meer schreibt der ihnen die Arbeit. Und wenn sie dann ihren Titel haben, fallen sie noch wütender über die Wissenschaft her und sagen: ›Ich bin selber Doktor, ich weiß genauso gut Bescheid wie Sie!‹ Ist das nicht witzig?«
    Dima schwieg. Er hätte sich nun ebenso öffnen und seiner zufälligen Begleiterin erzählen können, dass er über zehn Jahre bei der Miliz gearbeitet hatte und dass die Männer der Praxis über deren Wissenschaft tatsächlich so dachten, wie sie erzählte. Er hätte die Kurzsichtigkeit der Vorgesetzten und die Ungerechtigkeit beklagen können. Ihr erzählen, dass er die Polizei verlassen hatte und zu einer Privatfirma gegangen war, die sich mit etwas befasste, was äußerst verschwommen als »Geschäftssicherheit« bezeichnet wurde. Dann wäre ihr Gespräch vielleicht professioneller und persönlicher geworden, sie hätten bestimmt ein Dutzend gemeinsame Bekannte aufgetan, sich gegenseitig vielleicht sympathisch gefunden, und ihre Bekanntschaft wäre ganz anders weitergegangen. Das alles hätte geschehen können. Aber es geschah nicht. Dima Sacharow schwieg.
    Der Wagen stand an einer hell beleuchteten Kreuzung vor einer Ampel.
    »Ich weiß, woran Sie gerade denken«, sagte die Frau plötzlich. »Sie überlegen, ob ich Geld habe oder nicht.«
    »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie keins haben«, bekannte Sacharow offen, verblüfft von ihrer Voraussicht.
    »Fast richtig. Ich habe keines bei mir, aber zu Hause. Machen Sie sich also keine Sorgen.« Sie lächelte. »Ich weiß: Ich sehe nicht gerade nach Verschwendungssucht aus.«
    Ein paar Minuten später erreichten sie das Gebäude der Milizschule in der Wolginstraße.
    »Jetzt links«, sagte die Frau, »und an der Hausecke noch einmal links. Hier, vor dem Torbogen.«
    Vor dem Haus lag ein breiter Rasenstreifen, und Dima dachte, bis sie den Hauseingang erreicht hätte, wäre sie wieder klitschnass. Er empfand Mitleid mit dieser Frau, die ständig
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