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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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    PROLOG
    Wir kommen ohne Schwierigkeiten hinein, schieben uns an Schilfrohr vorbei, Wasser plätschert gegen die metallenen Seiten des Ruderbootes. Libellen tanzen um uns herum. Sie lassen sich an den verbeulten Rändern des Bootes nieder, auf den Griffen der Ruder und auf meinen Händen. Eine kleine landet auf meiner Nase. Die Ruder ziehen dicke Lagen reifer grüner Seerosenblätter aus dem Wasser. Einen Augenblick glitzern sie in der Mittagssonne, dann tauchen sie beim nächsten Schlag im Sturzflug unter.
    Am Bug sitzt eine junge Frau und lässt den Blick über das Wasser schweifen, über eine weitläufige Fläche sumpfiger Inseln, die sich in alle Richtungen erstreckt. Ein ohrenbetäubender Froschchor lässt die Luft vibrieren.
    Ein hoher Piepton durchbricht die träumerische Stimmung. Olena sieht auf das Gerät in ihrer Hand, ein Strahlungsdetektor, den wir vor ein paar Tagen in Kiew gekauft haben.
    »Zwanzig«, ruft sie. »Ich glaube, die Richtung stimmt.«
    Ich schaue auf die zerfledderte Fotokopie einer Landkarte, die mir an Land ein freundlicher Wochenendangler in die Hand gedrückt hatte. Darauf ist ein Teil des Kiewer Meeres zu sehen, ein riesiger Stausee, der aus den Flüssen Pripjat und Dnjepr gespeist wird. Ich bin mir so gut wie sicher, dass wir unser Ziel erreicht haben. Irgendwo hier, inmitten der Libellen und Seerosenblätter, haben wir eine Grenze überquert. Eine Grenze, bewacht nur von dahingleitenden Reihern und quakenden Fröschen.
    Wir sind soeben in das Ökosystem mit der höchsten Radioaktivität der Welt eingedrungen.
    Dies ist die verbotene Zone, Schauplatz der berüchtigten Tschernobylkatastrophe. Ein radiologisches Quarantänegebiet, das sich über mehr als 2 500 Quadratkilometer der Ukraine und Weißrusslands erstreckt, größtenteils für Menschen gesperrt, auch ein Vierteljahrhundert nach der Kernschmelze noch. Ohne vorherige Erlaubnis, offizielle Begleitung und einen Haufen Papierkram ist der Zutritt verboten. Zwei Reihen Zaun aus Betonpfosten und Stacheldraht umgeben das Gebiet, und an den Eingängen sind Wachen postiert.
    Zumindest an Land. Zu Wasser ist die Zone offen für jeden Spaß. Na ja, offen vielleicht nicht gerade, aber auch nicht so verschlossen, dass einer nachmittäglichen Paddeltour etwas im Wege stünde. Alles, was man braucht, sind ein Ruderboot und eine Möglichkeit, nach Strakholissya zu gelangen, der Stadt, die fast an der Stelle liegt, wo der Pripjat die Zone verlässt. Unter Umständen ist nicht einmal ein eigenes Boot notwendig: In Strakholissya trafen wir eine alte Frau, die uns ihr eigenes zur Verfügung stellte. Als wir wissen wollten, was das kosten würde, schien sie die Frage philosophisch zu betrachten: »Tja, was kos tet so etwas?«, fragte sie zurück und nahm unser Geld nicht an. Wir bezahlten sie in Erdbeeren.
    Ich rudere weiter. Das hohe Gras streift am Boot entlang. Ich lasse mich von der Sonne wärmen. Das ist der Rest des Infiltrationsplans. Nur das. Eine Libelle auf meiner Nase anschielen. Eine riesige Gewitterwolke beobachten, die am Horizont auftaucht und sich über den Himmel schiebt.
    Vor einigen Jahren habe ich sechs Monate in Indien verbracht und jede Menge exotischer Sehenswürdigkeiten besucht, von traditionellen Dörfern in einem abgelegenen Winkel Rajasthans bis zum goldbesetzten Heiligtum eines buddhistischen Klosters.
    Sie wissen schon, der übliche Mist.
    Und dann war da noch Kanpur. Gerade mit dem Titel »Stadt mit der höchsten Umweltverschmutzung Indiens« von der Regierung ausgezeichnet – was dort etwas heißen will –, drängte sich Kanpur als Reiseziel nicht unbedingt auf. Tatsächlich hat außerhalb Indiens kaum jemand von dieser Stadt gehört, und die meisten Inder interessieren sich einen Dreck für sie. Aber ich war mit einem Umweltschützer unterwegs, und die haben manchmal ungewöhnliche Prioritäten beim Sightseeing.
    Eine eindrückliche Dreitagestour zu nicht funktionierenden Kläranlagen, illegalen Industrieabfallhalden, giftigen Gerbereien und fäkalienübersäten Stränden folgte. Die Krönung war der Besuch eines traditionellen hinduistischen Festes, bei dem unzählige Pilger in einen widerlichen Abschnitt des heiligen – aber furchtbar verschmutzten – Ganges eintauchten und sich fla schenweise das heilige, mit Chrom versetzte Wasser für zu Hause abfüllten. Und außer uns kein Tourist weit und breit.
    Verrückterweise sollte sich Kanpur als Höhepunkt meines gesamten Aufenthalts herausstellen. Ich
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