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Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Autoren: Katie Hickman
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Kapitel 2
    An der süditalienischen Küste, 1604
    Als die Frauen das Dorf erreicht hatten, erschien es ihnen noch armseliger als all die anderen, die sie in diesem ohnehin bitterarmen Landstrich bisher zu Gesicht bekommen hatten.
    Obwohl sie die ganze Nacht auf den Beinen gewesen waren, wussten sie am frühen Morgen schon beim ersten Blick auf die Ansiedlung, dass es ein Fehler gewesen war herzukommen. Das Dorf war eigentlich kein Dorf, sondern eine Ansammlung von Fischerhütten, die wie Mollusken an dem trostlosen Strand klebten. Vom Meer aus mussten die Hütten wie ausgebleichtes Treibholz aussehen, das das Wasser angeschwemmt und aufgeschichtet hatte, und genauer betrachtet, bestanden sie genau daraus. Aus Treibholz und Lumpen.
    Aus alter Gewohnheit machten die Frauen am Dorfrand Halt und begutachteten ihr Ziel argwöhnisch. Es gab offensichtlich keine Kirche, nicht einmal eine Kapelle. Ein einfaches schlichtes Steinkreuz an der Weggabelung vor dem Dorf war wie ein rudimentärer Schrein mit Blumen und einem auf ein Stück Blech gemalten Madonnenbildnis geschmückt. Darüber baumelten an Schnüren mehrere Votivgaben, geformt wie Frauen mit Kronen auf dem Kopf. Sie klimperten in der leichten Brise. Nicht weit davon entfernt standen halb zerstörte Gebäude, die einmal recht ansehnlich gewesen sein mussten. Die Dächer waren eingestürzt, geschwärzte Holzbalken bohrten sich wie Knochensplitter aus ihren Überresten, nur hie und da erkannte man zwischen den bröckelnden Mauern einen steinernen Türsturz oder einen beschnitzten Türpfosten – Zeugen des beträchtlichen Wohlstands längst vergangener und vergessener Zeiten.
    Zwei der Kinder, Zwillingsmädchen von acht oder neun Jahren, sprangen von dem Karren herunter, auf dem sie gesessen hatten, und rannten flink wie Quecksilber in Schlangenlinien durch die zerfallenen heruntergekommenen Höfe. In ihren grellbunten Kleidern sahen sie aus wie flatternde Schmetterlinge. Maryam, die Anführerin der Gruppe, rief sie in scharfem Ton zurück.
    »Was fällt dir ein, sie einfach loslaufen zu lassen!«, tadelte sie die Mutter der Mädchen, eine Frau mit einem traurigen, blassen Clownsgesicht, die neben ihr vorne auf dem Karren saß.
    »Was schadet es denn? Lass sie doch ein wenig herumlaufen«, erwiderte die Frau milde.
    »Ruf sie zurück!« Maryam machte ein grimmiges Gesicht. »Wir fahren weiter.«
    »Aber wir sind doch erst angekommen …«
    »Sieh dorthin.« Maryam deutete auf einen hölzernen Türrahmen, der schief in den Angeln hing.
    Elena bemerkte es sofort. Ein unbeholfen mit Kalk gemaltes Kreuz. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. »Sie haben uns in ein Pestdorf gebracht?«
    »Das würde einiges erklären, meinst du nicht?«
    »Aber ich dachte, sie hätten gesagt - «
    »Es spielt keine Rolle, was sie gesagt haben, wir bleiben nicht hier.« Maryam sprang seitlich von dem Karren herunter. Selbst barfuß war sie ein gutes Stück größer als die meisten Männer, und auch Schultern und Brustkorb waren kräftig gebaut. Die schweren ledernen Zügel wirkten in ihren Händen wie die Leine eines Steckenpferds.
    »Aber wir können nicht mehr, wir sind seit Tagen unterwegs.« Ein heißer Windstoß zerzauste Elenas Haare zu wirren Zotteln. »Die Kinder sind so müde – wir sind alle so müde.« Sie wies auf die bunt zusammengewürfelte Gruppe erschöpfter Frauen, die sich hinter ihnen versammelt hatte, und dann auf das Pferd. »Und dieser arme alte Klepper kann auch keinen Schritt mehr weiter.«
    Der ausgemergelte Gaul, an dessen Flanke man jede Rippe einzeln zählen konnte, ließ den Kopf so tief hängen, dass er fast den Boden berührte.
    »Das ist mir gleich, wir bleiben hier nicht, und Schluss.«
    Maryam gab dem Rest der kleinen Karawane ein Zeichen, hob die Zügel über den Kopf des Pferdes und führte es vom Dorf weg durch niedriges Gestrüpp zwischen den Fischerhütten hindurch zum Meer. Auf dem sandigen Boden am Rand der Dünen stolperte das Pferd und stürzte. Obwohl Maryam mit der Peitsche auf das Tier einhieb, bis sie die Schulter kaum noch bewegen konnte, stand es nicht auf, und es war klar, dass es auch nie wieder aufstehen würde.
    Später, als die anderen auf einer freien, windigen Fläche im Schatten zweier krummer Olivenbäume ihr Lager aufgeschlagen hatten, fand Elena Maryam gegen einen Baum gelehnt auf einem Fleckchen Gras sitzen und gesellte sich zu ihr. Eine Weile lang saßen die Frauen schweigend nebeneinander und blickten auf die See. Der Wind
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