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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände
Autoren: Alexandra Marinina
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konnte stundenlang reglos dasitzen, wie erstarrt, ohne die leiseste Bewegung. Hin und wieder stand er auf, machte ein paar Lockerungsübungen, trank Tee, aß von seinen mitgebrachten Broten oder ein Stück Schokolade, ging ins Bad, wusch sich und setzte sich wieder in den Sessel. Ab und zu zog er die Handschuhe aus und hielt die Hände in die Luft, damit die Haut atmen konnte. Den Vollstrecker amüsierte der Gedanke, dass sich genau im Haus gegenüber die Moskauer Milizschule befand. Dieser Umstand hatte ihn veranlasst, seinen Mordplan etwas zu korrigieren, und ihn ein wenig erheitert. Der Vollstrecker war ein ernster, ja harter Mann mit ziemlich düsterem Humor.
    Es kümmerte ihn nicht, dass vom Erfolg seiner Operation irgendjemandes Wohlergehen, ja sogar Leben abhing. Er wollte lediglich seine Arbeit ordentlich erledigen, denn davon hing sein Ruf ab und damit künftige Aufträge und Einkünfte. Mit den Leuten, die in der Presse als »mafiose Gruppierungen« bezeichnet wurden, ließ er sich nie ein, er hielt sie für beschränkt und uninteressant. Er arbeitete für Leute von Format, denen daran lag, dass das Wort »Mord« niemandem auch nur in den Sinn kam. Der Vollstrecker war ein Spezialist für Unglücke und plötzliche Todesfälle. Bislang hatte er noch nie versagt, obwohl die Bedingungen seit letztem Jahr erheblich schwieriger geworden waren. Vor einem Jahr war sein Pate gestorben, der Mann, der ihn ausgebildet, ihn das ABC gelehrt hatte: Ausdauer, Präzision und Vorsicht. Er war nicht nur sein Lehrer gewesen, sondern auch sein erster Auftraggeber, hatte ihn in der Praxis geprüft und ihm mit seinen Empfehlungen den Weg geebnet. In puncto Sicherheit und Spurenverwischen war er ein Meister gewesen. Sein Tod, das war dem Vollstrecker klar, war ein gründlich geplanter Mord gewesen. Sein geschultes Auge hatte auf Anhieb die Arbeit eines Profis erkannt. Ja, die große Politik mochte eben keinen Schmutz. Solange der Pate noch lebte, hatte der Vollstrecker nur mit Leuten aus dessen Umkreis zu tun gehabt, vielfach geprüft und hundertprozentig verlässlich. Nun aber musste er seine Vorsicht verdoppeln, denn niemand vermittelte ihn mehr an Auftraggeber. Auch diesmal wusste er nicht, von wem der Auftrag kam. Eines Tages lag in seinem Briefkasten eine Postkarte mit einer Einladung nach Moskau zu einem fünfzigsten Geburtstag, der am sechsten Juni um Punkt neunzehn Uhr im Restaurant des Hotels Belgrad gefeiert werden sollte. Er setzte sich in den Zug, fuhr nach Moskau und ging am genannten Tag um elf Uhr abends ins Hotel (zu der in der Einladung angegebenen Zeit musste man vier Stunden addieren). Weiter lief alles nach dem seit Jahren bewährten Schema. Bereits zehn Minuten später bekam er den Auftrag erläutert, die nötigen Informationen langsam und deutlich diktiert und einen Vorschuss ausgezahlt. Das war alles. Keine überflüssigen Gespräche. In diesem Geschäft galten seit Urzeiten eigene Regeln, da gab es kein Gerede über Garantien, und niemand versuchte, den anderen übers Ohr zu hauen. Ein ausgeklügeltes Kontrollsystem erlaubte niemandem Extratouren, und der Vollstrecker wusste: Es gab Leute, die sich darum kümmern würden, dass er den Lohn für seine Arbeit pünktlich und vollständig bekam, und die darauf achten würden, dass er keinen Mist baute.
    Den Vollstrecker plagten keine bösen Vorahnungen. Er machte sich keine Illusionen über seine Einmaligkeit und Unfehlbarkeit, er wusste genau, dass er eines Tages entweder einen verhängnisvollen Fehler machen oder besonders ungünstigen Umständen zum Opfer fallen würde, doch das nahm er philosophisch. Er war kein Sadist, er empfand keine Freude an seiner Arbeit. Er beherrschte sie einfach gut und hatte ein Umfeld gefunden, in dem es immer eine Nachfrage dafür gab.
    Das Gedränge am Flugschalter hatte sich gelegt, und Sacharow berührte den Arm seines Begleiters.
    »Kommen Sie, Arkadi Leontjewitsch. Die Abfertigung für Ihren Flug wird gleich geschlossen.«
    Der schmächtige Arkadi Leontjewitsch rückte nervös seine Brille zurecht und ging zum Tresen.
    »Na dann, danke, Dima.« Er lächelte angespannt, als die junge Angestellte ihm sein Ticket aushändigte. »Sie waren ein angenehmer Begleiter. Übermitteln Sie Ihrem Chef meinen Dank. Ich nehme an, Trinkgeld ist bei Ihnen nicht üblich?«
    »Auf keinen Fall«, bestätigte Sacharow. »Zahlungen nur über die Firma.«
    »Schade.« Arkadi Leontjewitsch seufzte enttäuscht. »Ich hätte mich gern bei Ihnen
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