An einem Tag wie diesem

einen Moment, dann ging er weiter auf die blauen Fahnen zu.
    Er stellte sich vor, wie er mit Delphine zusammenziehen würde, in Paris, Versailles, wo auch immer. Er hatte nichts mehr, und auch sie schien nicht viele
Sachen zu besitzen. Sie würden sich einrichten, Möbel kaufen und Küchengeräte, einen Fernseher vielleicht und eine Stereoanlage. Er fragte sich, was sie mit ihrer Zeit anfangen würden, wie viel Zeit ihnen bleiben würde. Aber das alles spielte keine Rolle. Die Zukunft war nur ein Tag. Er musste Delphine finden und mit ihr sprechen. Er musste den Arzt anrufen, die Befunde abholen, auch wenn sie letztlich nicht von Bedeutung waren.
    Es waren immer noch ziemlich viele Leute am Strand, aber nur noch wenige waren im Wasser. Die Sonne stand tief über dem Meer, im Gegenlicht waren die Badenden nur als Silhouetten zu sehen. Trotzdem erkannte er Delphine sofort. Sie stand im Wasser mit dem Rücken zu ihm. Er rief sie, aber der Lärm verschluckte seine Worte. Er ging auf sie zu. Das Wasser war kalt und trüb vom aufgewirbelten Sand. Wenige Meter hinter Delphine blieb er stehen und schaute zu, wie sie mit mechanischen Bewegungen in die Wellen sprang, aufstand, ein paar Schritte zurücktrat, immer wieder, ohne Sinn und ohne Ende. Manchmal ging sie in die Knie und tauchte ganz ins Wasser ein und stand wieder auf. Endlich drehte sie sich um und kam mit schnellen, stakenden Schritten auf ihn zu. Sie trug einen geblümten Bikini, und ihr Körper glänzte vor Nässe. Sie hatte den Kopf gesenkt und schaute auf das Wasser vor ihr. Erst als sie Andreas fast erreicht hatte, bemerkte sie ihn. Sie blieb stehen, dann machte sie zwei Schritte auf ihn zu. Sie sagte etwas, das er nicht verstand, und lachte und küsste ihn auf den Mund. Sie umarmten sich, drückten sich so fest, dass es wehtat.
Delphines Körper war kühl. Über ihre Schulter sah Andreas nicht weit entfernt ein anderes Paar, das sich umarmte, und es war ihm, als beobachte er sich und Delphine, als sei er sehr weit entfernt von allem. Nur das Rauschen der Wellen war ganz nah und umfing ihn.

Über Peter Stamm
    Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie. Längere Aufenthalte in Paris, New York und Skandinavien. Er lebt in Winterthur. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor und Journalist. Sein erster Roman »Agnes« erschien 1998, 1999 die Kurzgeschichtensammlung »Blitzeis«, 2001 der Roman »Ungefähre Landschaft« und 2003 Erzählungen unter dem Titel »In fremden Gärten«, seine Theaterstücke erschienen 2004 gesammelt in »Der Kuss des Kohaku«.

Über dieses Buch
    An einem Tag wie diesem ändert Andreas sein Leben. Ihn packt eine Sehnsucht, die zwischen Heimweh und Fernweh nicht mehr unterscheidet. Er wirft alles hin, verkauft seine Wohnung und kündigt seine Stelle in Paris, um nach einem halben Leben zu der Frau zurückzukehren, die er einmal geliebt hat. Die Gleichheit der Tage war sein einziger Halt, jetzt hofft er auf ein Wunder und darauf, dass alles neu beginnt. Seine Reise führt ihn in die Provinz seiner Jugend und wieder weg bis ans Ufer des Atlantiks, in die Arme einer Frau, deren Liebe er beinah verspielt hatte.

Impressum
    Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
    Abbildung: Oliver Möst
    © 2006 S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
     
    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
    ISBN 978-3-10-401025-0



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