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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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Andreas liebte die Leere des Morgens, wenn er am Fenster stand, eine Tasse Kaffee in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand, und auf den Hof hinausschaute, den kleinen, aufgeräumten Hinterhof, und an nichts dachte als an das, was er sah. In der Mitte des Hofes ein mit Efeu bepflanztes, viereckiges Beet, darin ein Baum, aus dem in der Mitte und oben ein paar dünne Äste wuchsen, zurechtgestutzt nach dem wenigen Raum, der zur Verfügung stand. Die leuchtend grünen Container, Glas, Verpackungen, Restmüll, das regelmäßige Muster der Zementplatten, von denen einige etwas heller waren, vor Jahren ersetzt aus irgendeinem Grund. Die Geräusche der Stadt waren nur leise zu hören, ein homogenes Rauschen, dazwischen entfernte Vogelrufe und sehr deutlich das Geräusch eines sich öffnenden und wieder schließenden Fensters.
    Dieser besinnungslose Zustand hielt nur wenige Minuten lang an. Noch bevor Andreas die Zigarette zu Ende geraucht hatte, fiel ihm der gestrige Abend ein. Was er denn unter Leere verstehe, hatte Nadja gefragt. Für sie bedeutete Leere einen Mangel an Beachtung, an
Liebe, die Abwesenheit von Menschen, die sie verloren hatte oder die sich nicht genug um sie kümmerten. Die Leere war ein Raum, der einmal ausgefüllt gewesen war, oder von dem sie glaubte, er könnte ausgefüllt sein, das Fehlen von etwas, das sie wohl selbst nicht genau hätte bezeichnen können. Er habe keine Ahnung, hatte Andreas gesagt, er interessiere sich nicht für abstrakte Begriffe.
    Die Abende mit Nadja verliefen immer gleich. Sie kam eine halbe Stunde zu spät und gab Andreas das Gefühl, er sei es, der sich verspätet habe. Sie hatte sich schön gemacht, trug einen kurzen, eng anliegenden Rock und schwarze Netzstrümpfe. Mit einer theatralischen Geste ließ sie den Mantel auf den Parkettboden fallen. Sie setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander. Für sie schien das der Höhepunkt des Abends zu sein, ihr Auftritt. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund. Andreas gab ihr Feuer und machte ihr ein Kompliment. Er holte aus der Küche zwei Gläser Wein. Nadja musste schon etwas getrunken haben, sie war in aufgekratzter Stimmung.
    Meistens aßen sie in einem Lokal in der Nähe. Das Essen war gut genug, und der schwule Kellner schäkerte mit Nadja und setzte sich manchmal, wenn nicht viele Gäste da waren, zu ihnen an den Tisch. Nadja trank und redete zu viel und machte sich zusammen mit dem Kellner darüber lustig, dass Andreas Vegetarier war und dass er immer dasselbe bestellte. Er sagte, er sei kein Vegetarier, er esse einfach selten Fleisch. Spätestens beim Dessert fing Nadja an, über Politik zu reden. Sie war PR -Beraterin und arbeitete gelegentlich
für Unterorganisationen der Sozialistischen Partei, deren Ansichten sie auf eine Art vertrat, die Andreas ärgerte. Er sagte dann nicht mehr viel, und sie fragte mit einem aggressiven Unterton, ob sie ihn langweile.
    »Ich langweile dich«, sagte sie.
    Nein, sagte er, aber er sei Ausländer, er verstehe die französische Politik nicht, interessiere sich nicht dafür. Er halte sich an die Gesetze, er trenne seinen Müll, er erfülle den Lehrplan. Ansonsten wünsche er in Ruhe gelassen zu werden. Nadja ärgerte sich über sein Desinteresse, sie hielt ihm einen Vortrag, es gab Streit. Andreas versuchte, das Gespräch auf andere Themen zu bringen. Dann begann Nadja jedes Mal, von ihrem Exmann zu erzählen, von seiner Lieblosigkeit und Unaufmerksamkeit, und es schien Andreas, als gälten die Vorwürfe ihm. Nadja konnte nicht aufhören sich zu beklagen. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, und ihre Stimme wurde weinerlich. Die anderen Gäste waren längst gegangen, und der Kellner hatte die Aschenbecher geleert und die Kaffeemaschine gereinigt. Wenn er an ihren Tisch trat und fragte, ob sie noch etwas wünschten, war Nadja wie verwandelt. Sie lachte und flirtete mit ihm, und es dauerte noch einmal eine Viertelstunde, bis Andreas die Rechnung bezahlen konnte.
    Auf dem Nachhauseweg war Nadja schweigsam. Sie hatten sich den ganzen Abend nicht berührt. Jetzt hakte sie sich bei Andreas unter. Vor dem Haus, in dem er wohnte, blieb er stehen. Er küsste sie auf die Wangen und dann auf den Mund. Manchmal küsste er sie auf den Hals und kam sich lächerlich vor dabei. Ihr schien
es zu gefallen. Vermutlich entsprach es dem Bild, das sie von sich hatte. Die Geliebte, der die Männer zu Füßen liegen, die auf den Hals geküsst wird, die ihre Verehrer verlacht. Am
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