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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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zusammen
küssen – zwei Menschen drücken die Lippen aufeinander
    Am Ende des Kapitels gab es Fragen zum Text.
    Warum ist Jens enttäuscht?
Was wissen Sie von Angélique?
Wo liegt Schleswig-Holstein?
    Damals am Weiher war Andreas froh gewesen, dass Fabienne davongelaufen war. Er war verliebt in sie, aber für den Moment genügte ihm dieser erste Kuss, diese erste Berührung. In den folgenden Wochen stellte er sich manchmal vor, was geschehen wäre, wenn sie seinen Kuss erwidert hätte. Zusammen liefen sie in den Wald hinein. Sie versteckten sich im Unterholz, zogen sich aus. Sie lagen auf dem Boden, der weich war und warm in Andreas’ Phantasie. Dann rief Manuel nach ihnen, und sie zogen hastig ihre Badesachen an und schlenderten zurück zum Weiher, als sei nichts geschehen. Fabienne schaute Andreas an und lächelte. Manuel musste gemerkt haben, was geschehen war, aber Andreas war es egal. In seiner Vorstellung war er seltsam stolz und feierlich gestimmt. Während der Rückfahrt schwiegen sie. Andreas saß auf der Rückbank und betrachtete Fabienne, ihren gebräunten Hals, auf dem
feine, fast durchsichtige Härchen waren, ihre Ohrmuschel, durch die hindurch das Licht schien, das hochgesteckte Haar. Unter dem T-Shirt zeichneten sich ihre Schulterblätter ab und die Träger ihres BHs.
    Die Schönheit Fabiennes hatte ihn immer atemlos gemacht. Es war die Schönheit, die Makellosigkeit einer Statue. Er stellte sich vor, wie seine Hände über ihren Körper glitten, der kühl war wie Bronze oder polierter Stein. Fabienne war in seiner Vorstellung das junge Mädchen geblieben, als das er sie kennengelernt hatte, und wenn er an sie dachte, fühlte er sich so jung und unerfahren, wie er es damals gewesen war. Er konnte sich Fabienne nicht verschwitzt vorstellen oder müde, nicht wütend oder erregt. Er konnte sie sich nicht nackt vorstellen.
     
    Im Winter nach Fabiennes Abreise starb Andreas’ Mutter an Brustkrebs. Sie hatte schon seit einiger Zeit von der Krankheit gewusst, sie aber vor der Familie erst verborgen und dann heruntergespielt. Selbst kurz vor ihrem Tod tat sie noch, als sei alles in Ordnung. Die Stimmung zu Hause war unerträglich, und schließlich nahm Andreas sich ein Zimmer in der Stadt und fuhr nur noch an den Wochenenden heim. Er kam am Samstag meist erst nach dem Mittagessen und ging gleich auf sein Zimmer. Er sagte, er müsse arbeiten. Dann lag er auf dem Bett und las in seinen alten Kinderbüchern und kam erst zum Abendessen wieder herunter. Nach dem Essen verschwand er so schnell wie möglich ins Dorf, wo er sich mit Freunden traf. Er trank zu viel, und wenn er spätnachts betrunken nach Hause kam,
traf er manchmal die Mutter an, die nicht schlafen konnte. Sie stand in der Küche und schluckte irgendwelche Naturheilmittel, die sie vor ihm zu verstecken versuchte. Sie wünschte ihm eine gute Nacht und ging durch den dunklen Flur ins Schlafzimmer, aber wenn Andreas im Bett lag, hörte er, dass sie wieder aufgestanden war und ruhelos durch das Haus ging.
    In jenen Monaten fing er an, sich mit Beatrice zu treffen, Manuels jüngerer Schwester, die am Schalter der Kantonalbank arbeitete und sich kürzlich von ihrem Freund getrennt hatte. Die Beziehung dauerte kein halbes Jahr. Beatrice wohnte noch bei ihren Eltern, die religiös waren und es nicht zugelassen hätten, dass Andreas bei ihr übernachtete. Manchmal besuchte Beatrice ihn in der Stadt, aber sie wollte nie über Nacht bleiben. Andreas sagte, sie sei volljährig, aber sie schüttelte nur den Kopf und sagte, das könne sie ihren Eltern nicht antun. Sie ließ sich von ihm bis auf die Unterwäsche ausziehen, dann sagte sie, sie sei noch nicht so weit, sie wolle ihn erst besser kennenlernen. Wenn sie ihn berührte, kam es Andreas vor, als tue sie es widerwillig und nur, um ihm einen Gefallen zu tun. Irgendwann hatte er genug. Er rief sie in der Bank an und sagte, er wolle sie nicht mehr sehen. Sie sagte, sie sei am Schalter, sie könne jetzt nicht reden, und er sagte, es gebe nichts zu reden, und hängte auf. Danach ging er eine Woche lang nicht ans Telefon. Er sah Beatrice bei der Beerdigung seiner Mutter. Sie war mit Manuel gekommen. Die beiden kondolierten ihm, und sie wechselten ein paar belanglose Sätze. Jahre später hatte Andreas erfahren, dass Beatrice wieder
mit ihrem Exfreund zusammengekommen war und ihn geheiratet hatte.
    Während der Zeit, in der er mit Beatrice ging, fing er an, Fabienne zu schreiben. Er hatte seit ihrer Abreise oft
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