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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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hässlicher Hof«, sagte sie. »Was für Leute wohnen hier?«
    »Ich kenne kaum jemanden von den Nachbarn.«
    »Wie lange lebst du schon in diesem Haus?«
    Andreas rechnete nach.
    »Knapp zehn Jahre«, sagte er.
    Sylvie lachte und kam zurück ins Bett. Sie küsste ihn auf den Mund. Andreas fasste sie um die Taille und zog sie an sich. Sylvie setzte sich auf.
    »Jetzt kannst du mir etwas zu trinken anbieten.«
    Andreas zog seine Hose an und ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Sylvie folgte ihm. Sie sagte, sie verstehe nicht, wie er es in einer so winzigen Wohnung aushalte.
    »Eine größere kann ich mir nicht leisten.«
    »Ich habe Freunde, die ihre Wohnung in Belleville verkaufen wollen. Drei große Zimmer, und nicht teuer. Für deine hier würdest du bestimmt vierhunderttausend kriegen. Das Viertel ist schick geworden.«
    Andreas sagte, so klein sei die Wohnung nicht. Und er fühle sich wohl hier. Er brauche nicht mehr Platz. Dann erzählte er Sylvie von Angélique und Jens und von seiner Liebe zu Fabienne.
    »Es ist dieselbe Geschichte«, sagte er. »Ist das nicht verrückt?«
    »Aber deine ist schlecht ausgegangen.«
    »Für mich«, sagte Andreas. Er reichte Sylvie eine Tasse und setzte sich auf den Küchentisch. »Vielleicht
hat sie den Autor getroffen. Er wohnt auf Mallorca. Unmöglich ist es nicht.«
    »Und warum sollte sie ihm die Geschichte mit einem glücklichen Ende erzählen?«
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte Andreas.
    »Vielleicht war sie in dich verliebt. Vielleicht wollte sie, dass es gut ausgeht.«
    »Ich war ein Dummkopf«, sagte Andreas.
    Sylvie fragte, was denn so besonders gewesen sei an dieser Fabienne. Andreas sagte, sie sei sehr schön gewesen. Aber das konnte nicht die ganze Wahrheit sein. Würde er Fabienne heute kennenlernen, sie würde ihm immer noch gefallen, vielleicht würde er sie sogar ansprechen, eine Affäre mit ihr haben. Jene große Liebe, für die sie in seinem Leben stand, würde bestimmt nicht mehr daraus werden. Vermutlich war es gar nicht Fabienne, nach der er sich sehnte, sondern nach der Liebe von damals, nach der Bedingungslosigkeit jenes Gefühls, das ihn noch zwanzig Jahre später ratlos machte.
    »Der Stier, den man zur Kuh führt, glaubt auch, er sei verliebt«, sagte Sylvie und lachte. Sie sagte, sie müsse los und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
    »Schreib ihr doch«, sagte sie, als sie sich von ihm verabschiedete.
     
    Andreas hatte sich vorgenommen, Fabienne zu schreiben, aber er schob es immer wieder hinaus, und schließlich vergaß er es. In der Schule gab es Ärger, ein paar Schüler fingen während der Pausen Schlägereien an. Einer der Schläger war in Andreas’ Klasse, und es gab
Gespräche mit der Rektorin und den Eltern und mit einem Sozialarbeiter. Dann kam ein Brief von Walter. Andreas war erstaunt, dass Walter ihm schrieb. Sie telefonierten alle paar Monate und hatten sich nie viel zu sagen. Manchmal schickte Walter eine Postkarte aus den Ferien, auf der die ganze Familie unterschrieben hatte, an Weihnachten einen Brief, in dem er die Ereignisse des vergangenen Jahres zusammenfasste, sonst schrieben sie sich nie. Dem Brief war ein Formular beigelegt.
Räumung einer Grabstätte
, las Andreas. Darunter waren von Hand die Namen seiner Eltern eingetragen und unter der Rubrik
Auftraggeber
jene von Walter und ihm.
    Der / Die unterzeichnende Auftraggeber/in ist bereit, die Kosten des Friedhofgärtners für den Abtransport des Grabmals zu übernehmen. Die Planierung und Wiederherstellung der Grabfläche geht zu Lasten der Gemeinde.
    Walter hatte das Formular unterschrieben. Normalerweise würden Gräber erst nach zwanzig Jahren aufgehoben, schrieb er im Begleitbrief, aber das Grab gelte als jenes der Mutter. Vom Vater sei ja nur die Urne beigesetzt worden. Sie hätten damals eine Verzichtserklärung unterschrieben, vielleicht erinnere Andreas sich. Er bedaure, ihn mit dieser Angelegenheit behelligen zu müssen, aber er habe nicht über seinen Kopf hinweg entscheiden wollen. Er habe gedacht, Andreas wolle das Grab vielleicht noch einmal besuchen. Es werde frühestens im Herbst aufgehoben. Falls er in die Schweiz komme, könne er selbstverständlich bei ihnen
wohnen. Sie würden sich freuen, ihn wieder einmal zu sehen. Walter hatte den Brief mit »Dein Bruder« unterschrieben, was Andreas unpassend vorkam.
    Er erinnerte sich an die Beerdigung des Vaters. Es war ein heißer Tag gewesen. Damals hatten Walter und seine Familie noch in einer Wohnung
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