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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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gewohnt, und Andreas hatte das Angebot ausgeschlagen, bei ihnen zu übernachten. Er hatte sich im Hotel am Marktplatz ein Zimmer genommen. Walter hatte gefragt, ob er ihn am Morgen abholen solle, aber Andreas hatte gesagt, er solle sich keine Umstände machen.
    Während des ganzen Aufenthalts war er wie in Trance gewesen. Die einfachsten Entscheidungen waren ihm unendlich schwergefallen, und er hatte an nichts als an Nebensächlichkeiten denken können. Nur seine Wahrnehmung war so klar gewesen wie selten. Alles schien ihm unerträglich laut und intensiv, Geräusche, Farben. Selbst Gerüche nahm er deutlicher wahr als sonst. Als er auf dem Weg zum Friedhof die Straße überquerte, bremste ein Auto, und der Fahrer ließ die Scheibe herunter und rief ihm etwas nach. Andreas ging weiter, ohne sich umzudrehen. Er spürte, wie ihm auf Rücken und Stirn der Schweiß ausbrach.
    Auf dem Parkplatz vor dem Friedhof standen ein paar Autos, aber es war niemand zu sehen. Das schwere schmiedeeiserne Tor lag im Schatten großer Nadelbäume. Andreas hatte seine Reisetasche dabei, er wollte gleich nach der Trauerfeier abreisen. Jetzt wusste er nicht, wohin mit dem Gepäck. Er dachte kurz daran, die Tasche im Gebüsch beim Friedhofseingang zu verstecken,
verwarf aber den Gedanken sofort. Er zog das Jackett aus und zündete sich eine Zigarette an. Sein Hemd war verschwitzt. Ein leichter Luftzug kühlte den nassen Stoff auf dem Rücken und unter den Armen.
    Die Trauergäste standen in kleinen Gruppen vor der Friedhofskapelle und unterhielten sich leise. Es waren viele seiner alten Schulkollegen da. Sie nickten ihm zu, als er an ihnen vorbeiging, der eine oder andere murmelte etwas, fragte, wie es ihm gehe und was er mache. Andreas schaute sich nach Walter um, aber er konnte ihn nirgends entdecken.
    Mit einem überraschend lauten Schlag begannen die Glocken der Kirche auf der anderen Straßenseite zu läuten, und die Trauergäste bewegten sich mit bedächtigen Schritten auf den Eingang der Friedhofskapelle zu. Die Situation kam Andreas grotesk vor, die traurigen Mienen, das Flüstern, die Verlegenheit. Sein Vater war alt gewesen, er hatte zurückgezogen gelebt, und Andreas war sich sicher, dass die meisten hier ihn kaum gekannt hatten.
    Er blieb auf dem Vorplatz stehen. Als die Glocken verstummten und der Küster aus der Tür der Kapelle trat und einen letzten Blick in den Hof warf, kamen Walter und seine Frau aus einem der Aufbahrungsräume, die in einem länglichen Anbau untergebracht waren. Walter sah eher überrascht aus als traurig. Er schaute unruhig auf die Uhr. Bettina hatte verweinte Augen.
    Die beiden hatten Andreas nicht bemerkt. Er folgte ihnen in einigem Abstand in die Kapelle. In der Hand
hielt er immer noch die Zigarettenkippe. Beinahe hätte er sie in das Weihwasserbecken neben dem Eingang geworfen. Er blieb an der Rückwand stehen und stellte seine Reisetasche auf den Boden.
    Walter und Bettina gingen den Mittelgang entlang. Sie setzten sich in die vorderste Bank, wo schon Bettinas Eltern mit den Kindern saßen. Die Kinder trugen bunte Kleider. Vermutlich war das Bettinas Idee gewesen. Als Walter sich setzte, wandte er sich halb nach hinten, und die Bewegung wurde zu einer leichten Verbeugung, als wolle er die Trauergäste begrüßen. Er lächelte verlegen. In diesem Moment tat er Andreas leid, und er wäre gern zu ihm hingegangen und hätte ihn in die Arme genommen.
    Walter senkte den Kopf. Die Kinder rutschten unruhig hin und her. Dann fing die Orgel zu spielen an, die Trauergäste entspannten sich und sanken tiefer in die Bänke.
    Jetzt erst entdeckte Andreas Fabienne und Manuel. Sie saßen in einer der hinteren Reihen, nicht weit von ihm entfernt. Als Fabienne sich zu Manuel beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, konnte Andreas ihr Profil sehen. Sie hatte sich kaum verändert. Sie trug ein ärmelloses schwarzes Kleid. Andreas hatte Lust, ihre Schultern zu berühren und ihren Hals. Manuel trug einen dunklen Anzug. Er hatte ziemlich viele Haare verloren und war korpulent geworden. Als junger Mann hatte er auf einfache Art gut ausgesehen, jetzt kam er Andreas alt vor, obwohl sie derselbe Jahrgang waren.
    Der Pfarrer schien unter der Hitze zu leiden. Er war bleich und leierte seine Predigt herunter und einen austauschbaren
Lebenslauf voller Arbeit und Nachwuchs und Vereinsmitgliedschaften. Manches, was darin vorkam, hatte Andreas noch nie gehört oder vergessen. Sein Vater hatte kaum je von früher gesprochen. Das
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