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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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an sie gedacht, und manchmal, wenn er mit Beatrice auf dem Bett lag, schloss er die Augen und stellte sich vor, Fabienne liege neben ihm. Seither hatte sie ihn begleitet durch all seine Beziehungen. Sie war immer da gewesen, ein Schatten, der mit der Zeit schwächer geworden war, aber nie ganz verschwand.
     
    Andreas ging in die Küche und machte sich Tee. Dann legte er sich aufs Sofa und begann, das Büchlein von Anfang an zu lesen.
    Die Liebe von Angélique und Jens war fast so unschuldig, wie es jene von ihm und Fabienne gewesen war. Sex gehörte nicht zum Grundwortschatz, und Jens schien sich mehr für die Schönheit Schleswig-Holsteins zu interessieren als für jene Angéliques. Er fuhr die Geliebte in seinem alten Käfer durch die Gegend, zeigte ihr das Wikinger-Museum Haithabu und den berühmten Bordesholm-Altar in Schleswig und spazierte mit ihr am Nord-Ostsee-Kanal entlang, einer der wichtigsten Wasserstraßen der Welt, wie er ihr erläuterte. Auf der Rendsburger Hängefähre küsste er sie zum ersten Mal, und danach machten sie Ausflüge in die weitere Umgebung. Ein Besuch in Lübeck gab Jens die Gelegenheit, den dümmsten Satz über Thomas Mann von sich zu geben, den Andreas je gelesen hatte. Er überblätterte ein paar Seiten, es wurde Herbst. Der
Tag von Angéliques Abreise rückte näher und warf dunkle Schatten auf das junge Glück. Als Jens zum Bahnhof fahren wollte, um sich von Angélique zu verabschieden und um ihr zu versprechen, dass er nach Paris kommen werde, hatte sein Auto wieder einmal eine Panne, und er sah, als er den Bahnhof endlich doch erreichte, nur noch die Rücklichter des Zuges. Fahrlässigerweise hatten die beiden keine Adressen getauscht, und ein paar Seiten lang sah es aus, als würden sie sich nie wiedersehen. Aber dann schaffte es Jens, einen Studienplatz in Paris zu ergattern. Im Frühling reiste er Angélique nach, und wenige Tage später traf er sie durch einen haarsträubenden Zufall, als er die Champs-Élysées hinunterspazierte. Ein glückliches Ende im Frühlingslicht, eine fahrige Federzeichnung des Glücks.
    Die Geschichte war unglaubwürdig und schlecht geschrieben, aber sie hatte verblüffende Parallelen zu Andreas’ Geschichte. Auch er war Fabienne nachgereist, allerdings erst nach zwei Jahren. Sie hatten sich während der ganzen Zeit geschrieben. Andreas hatte den Kuss am Weiher nie erwähnt, aber seine Briefe waren voller Andeutungen gewesen. Fabienne musste gemerkt haben, was er für sie empfand.
    Sie schrieb nie von sich aus, aber sie beantwortete alle seine Briefe postwendend. Sie schrieb über ihre Ausbildung, ihre Familie und ihre Freunde. Dass Manuel sie in Paris besuchte, erwähnte sie ebenso wenig wie ihre Reisen in die Schweiz. Erst als Andreas seine Ausbildung abschloss und eine Praktikumsstelle am Gymnasium eines Pariser Vororts fand, schrieb sie ihm in
einem Postskriptum, sie werde im Oktober in die Schweiz kommen. Sie und Manuel seien ein Paar, und das ewige Hin und Her sei ihnen zu mühsam geworden und zu teuer.
    Andreas war wie gelähmt. Er fragte sich, weshalb er nie auf die Idee gekommen war, Fabienne zu besuchen. Er dachte daran, das Praktikum abzusagen, dann trat er es dennoch an. Er nahm sich vor, mit Fabienne zu reden. Wochenlang überlegte er, was er ihr sagen würde. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie an Manuel fand, der eine Stelle als Sportlehrer angetreten hatte in dem Dorf, in dem er und Andreas aufgewachsen waren.
    Kaum in Paris angekommen, rief er Fabienne an. Sie sagte, sie habe viel zu tun, sie stecke mitten in den Zwischenprüfungen. Schließlich verabredeten sie sich für einen der nächsten Tage in der Teestube der Moschee.
    Fabienne war in den zwei Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, noch schöner geworden. Sie hatte etwas abgenommen, und ihre Gesichtszüge waren klarer, erwachsener. Völlig unbefangen kam sie durch das überfüllte Lokal auf Andreas zu. Sie bestellte Pfefferminztee und süßes Gebäck für sie beide. Andreas erzählte von seiner Stelle, von den Schülern und von seinen neuen Kollegen. Fabienne sprach über die Prüfungen, die gut gelaufen waren, über die Sommerferien und über Bücher, die sie gelesen hatte. Sie sagte, sie werde das Studium in Zürich abschließen. Ihr Deutsch sei viel zu schlecht, es sei dringend nötig, dass sie noch einen Aufenthalt im Sprachgebiet mache. Ihre Aussprache
sei perfekt, sagte Andreas, in der Schweiz werde sie ohnehin kein anständiges Deutsch lernen. Aber Fabienne
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