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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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sehen, aber Andreas hörte schon das Rauschen der Brandung. Er ging durch eine kleine Mulde und noch einmal ein paar Meter hinauf. Dann spürte er plötzlich Wind und sah das Meer vor sich liegen und zu seinen Füßen den Strand, der endlos lang zu sein schien und sich in beiden Richtungen in gelblichem Dunst verlor. Der Strand war fast leer. Ein paar hundert Meter von Andreas entfernt lagen die Menschen etwas dichter. Dort steckten blaue Flaggen im Sand, und auf einem Hochsitz saß ein Rettungsschwimmer. Im Wasser standen Kinder, Jugendliche, Eltern mit Kindern, ganze Familien. Sie standen nahe beieinander im knietiefen Wasser, vor dem weißen Auf und Ab der Wellen, als warteten sie darauf, dass etwas geschehe. Sie wirkten klein im Meer, das keinen Maßstab hatte. Andreas glitt die Düne hinunter. Je näher er dem Wasser kam, desto kleiner schien auch er zu werden. Er fühlte sich sehr allein, verlassen, ein Gefühl, das er als Kind oft gehabt hatte. Er wandte sich nach Süden und entfernte sich von den blauen Fahnen.
    Im Sand lagen nur noch vereinzelt Menschen, nackte, braun gebrannte Paare, nebeneinander oder ineinander verschlungen. Eine Frau lag schlaff auf dem Rücken eines Mannes, die Beine hingen seitlich herunter, es sah aus wie der misslungene Versuch einer unmöglichen Begattung. Die Abstände zwischen den Badenden wurden immer größer. Nur noch dann und wann kam Andreas an Burgen aus Tüchern und Sonnenschirmen vorbei, die wirkten wie letzte Außenposten einer verschwindenden Zivilisation. Er ging weiter. Manchmal
kam ihm ein einzelner, nackter Mann entgegen, und wenn sie sich kreuzten, wandten sie beide den Blick ab, als sei ihnen die Begegnung peinlich. Andreas ging ganz nah am Wasser, wo der Sand fest war und die Wellen seine Spuren sofort verwischten. Manchmal ging er auf einem dünnen Teppich aus Wasser, der unter seinen Füßen wegzog, bis es ihm schien, er bewege sich seitwärts. Er drehte sich um und schaute zurück. Es war kein Mensch zu sehen, kein Zeichen, keine Spur. Er zog sich nackt aus bis auf die Sonnenbrille und legte sich in den Sand. Das Gefühl von Einsamkeit war schwächer geworden, je weiter er sich von den letzten Menschen entfernt hatte. Jetzt war es ganz verschwunden. Es war ihm, als sei er selbst kein Mensch mehr. Er lag auf dem Rücken und schaute in den Himmel, dessen Blau so durchlässig schien, dass er dahinter die Schwärze, die Leere des Weltalls erahnte. Der Wind ließ nicht nach, und das Rauschen der Brandung war ein stetiges Geräusch, die einzelnen Wellen waren nicht zu unterscheiden. Man müsste wochenlang hier sein, dachte Andreas, sich jeden Tag stundenlang nackt der Sonne aussetzen und dem Wind und braun werden, austrocknen in der salzigen Luft, sich vom Sand abschleifen lassen wie Treibholz, zäh werden und widerstandsfähig. Dann könnte einem nichts mehr geschehen. Er schlief ein und wachte wieder auf. Er setzte sich auf, schaute hinunter zum Wasser. Die Sonne stand tief. Das Meer hatte sich etwas zurückgezogen, die Wellen waren weniger hoch, aber der Wind hatte aufgefrischt und stieß Andreas an, trieb ihn weg von hier. Er schloss die Augen. Er sah sich und Delphine
in einem Straßencafé sitzen auf den Champs-Élysées. Was für ein Zufall, hörte er sich sagen, und Delphine sagte, warum bist du nicht zum Bahnhof gekommen? Mein Auto war kaputt, sagte er. Ich habe deine Adresse verloren. Sätze, die er gelesen hatte, vor langer Zeit.
    Was für ein Zufall, dass er Fabienne getroffen hatte, Nadja, Sylvie und Delphine. Dass es ihn nach Paris verschlagen hatte und jetzt hierher, an diesen einsamen Strand. Es war ein Zufall gewesen, dass seine Eltern sich kennengelernt hatten, seine Großeltern und Urgroßeltern. So gern sie das Gegenteil geglaubt haben mochten, so gern sie sich eingeredet haben mochten, das Schicksal habe sie zusammengeführt. Seine Geburt, jede Geburt war der letzte einer unendlichen Reihe von Zufällen. Nur der Tod war kein Zufall.
    Er dachte an die Zufälle, die ihn und Delphine zusammengeführt und wieder getrennt hatten. Ein plötzlicher Regenschauer, ein Telefonanruf zur falschen Zeit, eine Laune hätten genügt, das ganze komplexe Gebäude aus kleinen Ereignissen und unbedeutenden Entscheidungen zum Einsturz zu bringen.
    Er erhob sich und machte sich auf den Weg zurück. Er hatte Gegenwind, und manchmal waren die Böen so stark, dass ihm eine feine Gischt ins Gesicht sprühte. An der Stelle, an der er die Düne überquert hatte, zögerte er
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