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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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hoffe, sie seien nicht zu alt dafür. Maja lachte und sagte, für Schokolade sei man nie zu alt.
    Beim Mittagessen sprachen sie über die Leute aus dem Viertel. Walter erzählte, ein Blitz habe in die Tanne im Nachbargarten eingeschlagen, und man habe sie fällen müssen. In einigen Häusern wohnten jetzt die Kinder, mit denen Andreas und er zur Schule gegangen seien. Die zwei alten Schwestern im Haus in der Kurve
seien schon vor Jahren ins Altersheim gezogen. Eine von ihnen sei inzwischen gestorben, sagte Bettina. Walter sagte, davon wisse er nichts.
    »Das habe ich dir doch erzählt«, sagte Bettina. »Ich war bei der Beerdigung. Das ist bestimmt schon ein Jahr her.«
    »Und der Laden?«
    »Der wurde verkauft. Jetzt gehört er zu einer Kette. Aber besser als vorher läuft er auch nicht.«
    Vor dem Dorf sei ein Einkaufszentrum gebaut worden, sagte Walter. Die kleinen Geschäfte hätten Mühe, mitzuhalten. Es gebe noch eine Metzgerei im Dorf. Sie zählten die Metzgereien auf, die es früher gegeben hatte, und kamen auf sieben.
    Nach dem Essen schnappten sich die Kinder ihre Schokolade und verzogen sich in ihre Zimmer. Walter rief im Geschäft an, um sich den Nachmittag frei zu nehmen. Das Gespräch dauerte eine Weile, er musste einem Mitarbeiter etwas erklären. Bettina hatte Wasser für Kaffee aufgesetzt. Sie lehnte am Herd und sagte, es müsse seltsam für ihn sein, dass sie jetzt hier wohnten.
    »So wie ich Walter kenne, habt ihr nicht viel verändert.«
    Bettina lachte, dann wurde sie ernst. Sie sagte, der Tod des Vaters habe Walter damals sehr mitgenommen.
    »Wenn er wenigstens darüber gesprochen hätte. Aber er hat nichts gesagt, kein Wort. Er hat funktioniert wie eine Maschine. Am Anfang, als wir hier eingezogen sind, war es schrecklich. Man durfte nichts verändern,
kein Bild von der Wand nehmen, nichts. Unsere ganzen Sachen hat er in den Keller stellen lassen. Wenn ich ein Möbelstück verschoben habe, dann hat er es am Abend wieder an den alten Platz gestellt, ohne ein Wort zu sagen. Es ging hin und her. Und irgendwann hat er aufgegeben und mich machen lassen. Aber wenn es nach ihm ginge, sähe noch heute alles so aus wie damals.«
    »Der Garten hat mich an früher erinnert«, sagte Andreas. »Obwohl er da nicht so verwildert war.«
    Er sagte, sie hätten so viel erlebt in diesem Haus, aber es gelinge ihm nicht, es noch einmal so zu sehen wie damals.
    »Es ist alles noch da, ich erinnere mich an jedes Detail. Aber es hat nicht mehr dieselbe Bedeutung.«
    »Oben sind noch ein paar Kartons von dir«, sagte Bettina. »Schulsachen, glaube ich. Spielzeug und Bücher.«
    Andreas sagte, sie könne die Sachen wegwerfen.
    »Willst du sie nicht wenigstens durchschauen?«
    »Ich habe kürzlich alte Notizen durchgesehen. Es war seltsam. Ein Teil war mir so präsent, als hätte ich sie gestern geschrieben, andere waren mir total fremd. Und eigentlich waren beide nicht interessant.«
    Bettina sagte, sie werde die Sachen behalten. Vielleicht überlege er es sich ja anders. Platz sei genug. Andreas erkundigte sich nach den Kindern. Maja mache nächstes Jahr die Matura, sagte Bettina. Sie sei mathematisch sehr begabt. Was aus Lukas werde, wisse sie nicht. Er werde erstmal ins Gymnasium gehen. Es sei ja noch Zeit, sich zu entscheiden. Er sei ein verträumter
Junge, sagte sie, in manchem noch wie ein Kind. Er erinnere sie oft an Andreas.
    »An mich?«
    »Walter sagt das auch. Hast du die Ähnlichkeit nicht bemerkt? Er hat deine Augen. Die Augen eures Vaters.«
     
    Sie tranken Kaffee im Garten. Walter fragte, wie es Andreas gehe, und der erzählte, er habe einen hartnäckigen Husten, aber das werde schon wieder. Sonst gehe es ihm gut.
    »Rauchst du immer noch so viel?«, fragte Bettina.
    »Irgendwann höre ich auf.«
    »Das haben wir auch schon gehört.«
    Andreas sagte, er wolle lieber von etwas anderem reden. Walter fragte, ob er das Grab der Eltern besuchen wolle. Ja, sagte Andreas, warum nicht. Als Walter ins Haus ging, um ein Jackett zu holen, fragte Bettina, was das sei mit Andreas’ Husten. Er sagte, er habe ein paar Tests machen müssen, aber er sei abgereist, bevor er die Befunde bekommen habe.
    »Du hast Angst.«
    »Ja«, sagte Andreas. »Ich habe Angst.«
    »Es ändert nichts, ob du es weißt oder nicht. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.«
    »Ich wollte erst ein paar Sachen erledigen«, sagte Andreas.
    Ganz unvermittelt sagte Bettina, ihr Schwiegervater sei ein wunderbarer Mensch gewesen. Sie erinnere sich
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