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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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waschen sich.
    Er nahm die Kassette aus dem Gerät. Er stieg aus und ging zum kleinen Toilettenhäuschen, um sich das Gesicht zu waschen. Die Kassette warf er in eine Mülltonne, auf der in vier Sprachen Danke stand. Er setzte sich an einen der Tische aus Waschbeton, die in der grellen Sonne standen. Als er sich etwas erholt hatte, fuhr er weiter.
    Hundert Kilometer vor Paris nahm Andreas eine Straße, die nach Westen führte. Es war ihm, als sehe er sich selbst von weit oben durch die dunkle Landschaft fahren, von der er keine rechte Vorstellung hatte. Lange führte die Straße durch Felder und bewaldete Gebiete, vorbei an hingeworfenen Dörfern. Dann und wann streifte sie eine Stadt, und eine Zeit lang waren am Rand der Fahrbahn Leuchtreklamen zu sehen von billigen Hotels und Einkaufszentren. Einmal wäre Andreas beinahe eingenickt. Der Wagen war langsam auf die Überholspur gedriftet, ohne dass er es gemerkt hatte. Erst ein lautes, lang anhaltendes Hupen weckte ihn aus seinem Dämmern. Er riss das Lenkrad herum, der 2 CV machte einen Schlenker und fing gefährlich an zu schaukeln, und ein Wagen überholte so dicht, dass die beiden Autos sich beinahe streiften. Andreas’ Herz schlug heftig. Er klappte das Fenster hoch. Warme
Luft drang herein, und das Zirpen der Grillen war so laut, dass es selbst im Lärm des Motors noch zu hören war.
    Andreas machte das Radio wieder an. Auf
France Culture
lief
Du jour au lendemain
, eine seiner Lieblingssendungen. Der Gastgeber interviewte einen französischen Schriftsteller, dessen Namen Andreas noch nie gehört hatte und der als unlesbar zu gelten schien. Der Schriftsteller gab lange Antworten, von denen Andreas, auch als er das Fenster wieder geschlossen hatte, nur die Hälfte verstand. Er sei früher gläubig gewesen, sagte er, habe sogar Priester werden wollen, aber nachdem er selbst zum Schöpfer geworden sei, zum Schriftsteller, habe er angefangen, an Gott zu zweifeln. Jetzt glaube er nur noch an die Kraft des Ich, die Lebenskraft, die stärker sei als alle Mühen, aller Schmerz, als der Tod, von dem alle umgeben seien. Die Lebenskraft jedes Einzelnen sei letztlich stärker als das Absolute, mache dieses hinfällig, lösche es aus, lasse es in sich zusammenbrechen. Das Ich, großgeschrieben, sagte er. Andreas beneidete den Mann um sein Selbstbewusstsein. Er hatte nie ein sehr klares Bild seiner selbst gehabt. Vielleicht hatte er deshalb ein so regelmäßiges Leben geführt. Die Gleichheit seiner Tage war sein einziger Halt gewesen. Ohne Stelle, ohne Wohnung, ohne Stundenpläne, die regelmäßigen Treffen mit seinen Geliebten und seinen Freunden war er nur noch ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft.
    Er dachte an die Abende mit Nadja, die immer gleichen Abende. Die Leere sei die Wiederholung, hatte er
damals gedacht. Aber es stimmte nicht. Die Leere lauerte jenseits der Wiederholung. Die Angst vor der Leere war die Angst vor der Unordnung, dem Chaos, die Angst vor dem Tod.
    Andreas hatte die Nacht durchfahren wollen. Als er wieder die Leuchtreklamen von Hotels auftauchen sah, entschloss er sich, ein Zimmer zu nehmen und sich ein paar Stunden auszuruhen. Das Hotel stand direkt neben der Autobahnausfahrt. In einem Tankstellenshop gegenüber kaufte Andreas ein paar Dosen Bier. An der Rezeption des Hotels saß ein schläfriger Nordafrikaner, der ihn bat, das Zimmer gleich zu bezahlen.
    Obwohl Andreas müde war, konnte er nicht einschlafen. Er trank Bier und schaute fern, bis ihm endlich doch die Augen zufielen. Im Traum fuhr er weiter auf einer endlosen Autobahn. Er sah nur die Mittelstreifen, er sah sie nicht, er spürte ihren Rhythmus wie dumpfe Schläge in seinem Kopf. Das Auto fiel in einen dunklen Abgrund, und die Mittelstreifen flogen vorbei und hämmerten einen immer schneller werdenden Takt zum unaufhaltsamen Fall.
    Andreas erwachte verschwitzt und kaum weniger müde, als er eingeschlafen war. Es war früh, draußen dämmerte es. Er duschte und ging mit dem Gepäck hinunter. An der Rezeption war niemand. Auf einem Schild standen die Frühstückszeiten und eine Telefonnummer für Notfälle. Andreas wollte keine Zeit verlieren und entschloss sich, gleich weiterzufahren.
    Als er seinen Koffer im Auto verstaute, fiel sein Blick auf das Bündel mit der Jagdgöttin. Er wickelte die Statue aus und fuhr mit den Fingern über den
glänzenden Bronzekörper, über die winzigen Brüste und das kleine Gesicht, das ihn immer an jenes Fabiennes erinnert hatte, das
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