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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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einen Schulkollegen von Andreas, der sehr jung bei einem Verkehrsunfall gestorben war, die Inhaberin des Kurzwarengeschäftes, Walters ehemalige Musiklehrerin. Sie trennten sich an der Bahnschranke.
    »Das nächste Mal wohnst du bei uns«, sagte Walter. »Versprichst du mir das?«
    Andreas versprach es.
    »Und dann bleibst du etwas länger.«
    »Ja.«
    »Mach’s gut, und fahr vorsichtig.«
    Plötzlich glaubte Andreas daran, dass es ein nächstes Mal geben würde. Er umarmte den Bruder kurz, und jeder ging seinen Weg.
     
    Andreas dachte an Delphine, an die vielen Umzüge, die sie als Kind mitgemacht hatte. Ihre Kindheitserinnerungen waren an keinen bestimmten Ort gebunden. Sie hatte gesagt, sie könne sich überall zu Hause fühlen. Andreas fragte sich, ob das ein Mangel war oder eine Stärke. Vielleicht wäre es einfacher, dachte er, keine Wurzeln zu haben. Es war, wie wenn man die Asche von Verstorbenen verstreute. Dann waren sie überall und nirgends. Seine Kindheit war begraben in diesem Dorf wie seine Eltern, aber wenn er vor dem Grab stand, war da nicht mehr als ein Stein mit Namen und Lebensdaten. Seine Erinnerungen waren nicht lebendiger hier als anderswo. Nur das Gefühl des Verlusts war größer. Vielleicht hätte er nicht zurückkommen sollen oder immer hier bleiben wie sein Bruder. Dann hätte er
sich langsam an die Veränderungen gewöhnt, so wie man sich an die Veränderungen seines Körpers gewöhnte und immer derselbe zu sein schien von Kindheit an bis ins hohe Alter.
    Im Hotel packte er seine Sachen. Er ging hinunter zur Rezeption und sagte, er reise ab. Der Portier brauchte lange, um die Rechnung zu schreiben. Andreas nahm eine Postkarte aus einem Ständer, das Dorf in fünf sonnigen Ansichten, die katholische und die protestantische Kirche, das Rathaus, das Kongresszentrum und die Treppe eines historischen Gebäudes, auf der irgendein Freiheitskämpfer vor langer Zeit eine wichtige Rede gehalten hatte. Endlich hatte der Portier fertig gerechnet, und Andreas stellte die Postkarte zurück und bezahlte.
    Die leichte Stimmung vom Vormittag war verflogen. Andreas fühlte sich müde und verwirrt. Er fuhr los ohne Ziel, ohne nachzudenken nach Westen. Er hörte Radio, einen Klassiksender, auf dem verschiedene Aufnahmen desselben Stücks miteinander verglichen wurden. Die Moderatorin diskutierte mit einer Musikerin und einem Musiker die Unterschiede der Interpretationen. Eine war ihnen zu schnell, die andere zu schleppend. Sie kritisierten Solisten, die sich zu sehr in den Vordergrund drängten, und andere, die mit zu wenig Emphase spielten, zu ungenau oder mit falschem Gefühl. Andreas versuchte, diese Unterschiede herauszuhören, aber meistens gelang es ihm nicht.
    Je weiter westlich er kam, desto schwächer wurde der Empfang. Immer öfter wurde die Musik nun von
Rauschen zerrissen, und dann war plötzlich ein anderer Sender zu hören, ein französischsprachiges Programm mit Popmusik und zwei aufgeregten Moderatoren, die Unsinn redeten und sich dabei gegenseitig ins Wort fielen. Andreas schob die Kassette ein, die im Gerät steckte. Es war der Sprachkurs, den er und Delphine auf dem Hinweg gehört hatten, der sympathische Mann, der erzählte, wie er Wurst und Käse frühstückte und mit dem Bus zur Arbeit fuhr, wie er mittags in der Kantine aß, wo er die Wahl zwischen drei schmackhaften Gerichten hatte, und wie er nach der Arbeit wieder nach Hause fuhr.
    Nach dem Abendessen setze ich mich vor den Fernseher und schaue mir noch die Nachrichten an. Das Abendprogramm interessiert mich nicht sehr, und die interessanten Sendungen kommen für mich meistens zu spät. Ich gehe früh zu Bett. Die Nacht ist schnell vorbei. Und wenn morgens früh der Wecker klingelt, habe ich nicht immer ausgeschlafen. Der nächste Tag wiederholt sich auf die gleiche Weise.
    Andreas hatte bei einem Rastplatz angehalten. Er saß im Auto und hörte zu, wie der Mann sein Leben erzählte. Bei den letzten Sätzen krampfte sich sein Körper zusammen, und er begann zu zittern, als hätte er Schüttelfrost. Es würgte ihn, und dann begann er zu schluchzen, trocken und stoßweise. Als endlich die Tränen kamen, ließ das Zittern nach, und er wurde ruhiger. Er legte den Kopf auf das Lenkrad und weinte lange, ohne recht zu wissen, weshalb.
    Das Band war weitergelaufen. Als Andreas es wieder wahrnahm, sprach eine Frau mit überdeutlicher Aussprache.
    Ich wasche mich. Du wäschst dich. Er wäscht sich. Wir waschen uns. Ihr wascht euch. Sie
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