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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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liebsten wäre Andreas jetzt allein gewesen, aber er fragte sie trotzdem, ob sie mit hinaufkomme. Sie sagte, ja. Es klang wie eine Kapitulation.
    Nadja gehörte nicht zu jenen Frauen, die schöner wurden, wenn man mit ihnen schlief. Ihre eng anliegenden Kleider waren wie eine Rüstung, wenn sie nackt war, schien sie jeden Halt zu verlieren und sah alt aus, älter, als sie in Wirklichkeit war. Sie ließ alles mit sich geschehen, ließ sich Andreas’ Zärtlichkeiten gefallen, ohne sie zu erwidern. Das, hätte er sagen sollen, verstehe er unter Leere. Diese Abende mit ihr alle zwei Wochen, die Wiederholung des immer gleichen Abends, der immer gleichen Nacht, ohne sich je näher zu kommen. Aber er sagte es nicht. Er mochte die Leere der Wiederholung. Er genoss das Gefühl, dass Nadja mit ihren Gedanken anderswo war, dass sie ihm ihren Körper nur zur Verfügung stellte, bis sie nach einer oder zwei Stunden plötzlich ungeduldig wurde, ihn wegschob und sagte, er solle ihr ein Taxi rufen. Die Leere, das waren diese Abende mit ihr, die Nachmittage mit Sylvie oder die Wochenenden, die er allein zu Hause verbrachte in seiner gemütlichen, gut geheizten Wohnung, an denen er fernsah oder ein Computerspiel spielte oder las. Die Leere war sein Leben, waren die achtzehn Jahre, die er in dieser Stadt verbracht hatte, ohne dass sich etwas verändert hatte, ohne dass er sich eine Veränderung wünschte.
    Die Leere sei der Normalzustand, hatte er gesagt, er fürchte sich nicht davor, im Gegenteil.
     
    Manchmal, wenn Andreas auf dem Weg zur Arbeit die Straße überquerte, stellte er sich vor, von einem Bus überfahren zu werden. Die Kollision war wie die Auflösung von dem, was gewesen war, und zugleich ein Neuanfang. Ein Schlag, der die Verworrenheit beendete und Ordnung schuf. Plötzlich war alles von Bedeutung, der Tag und die Stunde, der Name der Straße oder des Boulevards, jener des Busfahrers, Andreas selbst, das Datum und der Ort seiner Geburt, sein Beruf und seine Konfession. Es war ein regnerischer Morgen im Herbst oder Winter. Der nasse Asphalt reflektierte das Licht der Leuchtreklamen und der Autoscheinwerfer. Der Verkehr staute sich hinter dem Bus, der quer in der Fahrbahn stand. Eine Ambulanz kam. Passanten standen herum und gafften. Ein Polizist winkte den Verkehr an der Unfallstelle vorbei. Die Passagiere der vorüberfahrenden Busse reckten die Hälse, starrten aus den Fenstern. Sie begriffen nicht ganz, was geschehen war, und vergaßen es gleich wieder, wenn ein anderes Bild ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein zweiter Polizist versuchte, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Er befragte den Fahrer des Busses, die Verkäuferin der Bäckerei, die alles gesehen hatte, eine weitere Zeugin. Dann würde er ein Protokoll erstellen in mehrfacher Ausführung, eine Akte, die in einem Archiv abgelegt würde, eingereiht in ein Alphabet von Todesfällen. Andreas stellte sich die Maßnahmen vor, die getroffen werden mussten,
um ihn aus dem System zu entfernen. Man würde seinen Bruder benachrichtigen, der würde entscheiden müssen, was mit dem Leichnam geschehen soll. Andreas hatte der Versuchung widerstanden, ein Testament zu machen, er hatte es immer eitel gefunden, Anweisungen für den Fall des eigenen Todes zu geben. Vermutlich würde Walter sich für eine Einäscherung entscheiden, das wäre das Einfachste und Vernünftigste. Trotzdem wäre viel Papierkram zu erledigen, mit allen möglichen Ämtern Kontakt aufzunehmen. Man würde die Botschaft einschalten müssen.
    Andreas fragte sich, ob eine genaue Abrechnung erstellt würde über die Tage, die er vor seinem Tod gearbeitet hatte. Die Verwaltung der Schule müsste wissen, was zu tun war. Vielleicht gab es ein Merkblatt, Maßnahmen im Falle des plötzlichen Todes ausländischer Lehrkräfte.
    Und dann, nach einigen Tagen der Aufregung, nach Briefen und Telefonaten und leisen Gesprächen im Lehrerzimmer, würde es eine bescheidene Beisetzung geben, einen Kranz von der Schule, ein Gesteck von den Kollegen. Walter würde einen großen Strauß kaufen beim Blumendiscount an der Ecke. Er war aus der Schweiz angereist, hatte sich im Viertel ein billiges Hotel genommen und versuchte mit seinem schlechten Französisch alles zu organisieren. Er hatte Andreas’ Agenda gefunden, sein Adressverzeichnis. Für Todesanzeigen war die Zeit zu knapp, aber er rief einige von Andreas’ Bekannten an und bat sie zu kommen. Er wunderte sich über die vielen Frauennamen im Adressverzeichnis,
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