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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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hier keine Duschen eingebaut
habe für die Lehrer. Er trug ein Deodorant auf, der Geruch verbreitete sich im Raum. Jean-Marc zog sich an. Er holte ein Glas Wasser und setzte sich dicht neben Andreas.
    »Du kennst doch Delphine?«, er lehnte sich zurück und machte ein selbstzufriedenes Gesicht. »Wie findest du sie?«
    »Sympathisch«, sagte Andreas. »Erfrischend.«
    »Das ist das Wort.«
    Andreas ging zum Fenster, öffnete es und zündete sich eine Zigarette an. Jean-Marc schaute ihn strafend an.
    »Wir haben kürzlich zusammen ein Glas getrunken«, sagte er, »und dann bin ich irgendwie bei ihr gelandet.«
    »Und was hat das mit mir zu tun?«
    »Seither tut sie, als sei nichts gewesen. Als kenne sie mich nicht.«
    »Sei doch froh. Möchtest du, dass sie dich zu Hause anruft?«
    Jean-Marc stand auf und hob die Hände. »Natürlich nicht«, sagte er, »aber es ist doch seltsam. Du schläfst mit einer Frau. Und sie ... dabei sieht sie noch nicht einmal gut aus. Ist dir das auch schon passiert?«
    »Ich bin nicht verheiratet«, sagte Andreas. Es war grotesk, dachte er, dass er Jean-Marc als seinen besten Freund bezeichnet hätte.
     
    Wenn Andreas abends das Licht gelöscht hatte, lag er noch eine Weile wach. Er hatte die Vorhänge zugezogen, und im dunklen Raum waren nur die Stand-by-Lichter
des Fernsehers, des DVD -Players und der Stereoanlage zu sehen. Die roten Leuchtdioden hatten etwas Beruhigendes, sie erinnerten ihn an das ewige Licht in der Kirche, an die Gegenwart Christi, an den er nicht glaubte.
    Den Samstag verbrachte er wie immer damit, die Wohnung zu putzen und für die nächste Woche einzukaufen. Vor einigen Jahren war in der Straße ein Film gedreht worden, der zu einem Kultfilm geworden war, und seither kamen Leute aus aller Welt, um die Wirklichkeit an den verträumten Bildern zu überprüfen. Andreas hatte den Film als DVD gekauft, und wenn er ihn sich manchmal anschaute, war es ihm, als seien die Bilder wirklicher als die Straße vor seiner Tür, als sei die Wirklichkeit nur ein Abklatsch der goldenen Filmwelt, eine billige Kulisse. Man musste die Augen schließen, um die Musik zu hören, um die Bilder zu sehen. Dann war Paris genau so, wie er es sich immer vorgestellt hatte.
    Andreas mochte es, Teil dieser Kulisse zu sein. Er mochte das Bild von sich, wenn er im Café saß und die Zeitung las oder wenn er mit einer Baguette unter dem Arm durch die Straße ging, mit Tüten voller Gemüse, das eine Woche lang im Kühlschrank liegen würde, bevor er es wegwarf. Wenn Touristen ihn nach den Drehorten des Films fragten, gab er bereitwillig Auskunft. Er antwortete ihnen auf Französisch, selbst wenn er merkte, dass es Deutsche waren oder Schweizer und dass sie Mühe hatten, ihn zu verstehen.
    Er war zugleich Statist und Zuschauer eines imaginären Films, ein Tourist, der seit bald zwanzig Jahren
durch diese Stadt ging, ohne je ganz anzukommen. Er mochte diese Rolle, hatte nie etwas anderes gewollt. Große Unternehmungen, Veränderungen hatten ihn immer abgeschreckt. Er ging durch die Straßen von St.-Michel oder St.-Germain, stieg auf den Eiffelturm oder schaute sich die Kirche von Notre-Dame an oder den Louvre. Er spazierte über den Pont Neuf und kaufte in den großen Warenhäusern ein, obwohl die Preise absurd waren. Manchmal folgte er irgendwelchen Leuten ein Stück ihres Weges, beobachtete sie beim Einkaufen oder wenn sie in einem Café etwas tranken und ließ sie dann ziehen. Wenn er mit seinen Freunden sprach, die ihr ganzes Leben in Paris gewohnt hatten, staunte er, wie schlecht sie die Stadt kannten. Sie verließen ihre Viertel kaum und hatten die Museen seit ihrer Schulzeit nicht mehr besucht. Statt sich über die Schönheit der Stadt zu freuen, schimpften sie über die Streiks der Metroangestellten, über die schlechte Luft und über fehlende Parks und Spielplätze.
    Am späten Nachmittag ging er ins Kino und schaute sich einen amerikanischen Actionfilm an, eine belanglose Geschichte mit spektakulären Stunts und Spezialeffekten. Auf dem Heimweg wurde er von den Türstehern der Sexclubs angesprochen. Früher waren es schmierige junge Männer gewesen, aber seit einiger Zeit waren es immer öfter Frauen, die noch hartnäckiger waren als ihre Kollegen. Andreas schaute geradeaus und machte eine abwehrende Handbewegung, aber eine der Frauen folgte ihm bis zur nächsten Ampel und redete auf ihn ein und sagte, wie wär’s? Kommen Sie herein. Wir haben neue Mädchen.
    »Ich wohne hier«, sagte er und
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