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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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vielleicht war er ein wenig neidisch auf Andreas’
Junggesellenleben. Abends telefonierte er mit seiner Frau und beklagte sich über die Umständlichkeit der Behörden und erkundigte sich nach den Kindern. Dann aß er in einem Restaurant in der Nähe und spazierte noch etwas auf der rue des Abbesses oder der rue Pigalle. Andreas fragte sich, ob sein Bruder in eine Peepshow gehen würde oder zu einer Prostituierten. Er konnte es sich nicht vorstellen.
     
    An der Gare du Nord nahm Andreas den Vorortszug nach Deuil-la-Barre. Er nahm jeden Tag den gleichen Zug. Er betrachtete die Gesichter der Mitreisenden, Gesichter, denen man nichts anhaben konnte. Ein älterer Mann, der ihm gegenübersaß, starrte ihn mit ausdruckslosen Augen an. Andreas schaute aus dem Fenster. Er sah die Gleisanlagen, die Industriegebäude und Lagerhäuser, manchmal einen einzelnen Baum, Masten für Scheinwerfer oder Antennen, mit Graffiti bedeckte Backstein- und Betonmauern. Es war ihm, als sehe er nur Farben, Ocker, Gelb, Weiß, Silber, ein mattes Rot und das wässrige Blau des Himmels. Es war kurz nach sieben, aber Zeit schien keine Rolle zu spielen.
    Er fragte sich, ob Walter die Räumung der Wohnung einer Firma überlassen würde. Die Möbel waren nicht billig gewesen, aber was sollte er damit anfangen? Sonst besaß Andreas nicht viel. Persönliche Gegenstände, er hatte sich immer gefragt, was damit gemeint war. Eine kleine Statuette, Diana mit Pfeil und Bogen, im Gehen erstarrt, die er kurz nach seiner Ankunft in Paris auf einem Flohmarkt gekauft hatte,
ein paar Plakate von lange zurückliegenden Kunstausstellungen und gerahmte Fotos von Ferienreisen, menschenleere Landschaften im schattenlosen Mittagslicht Italiens und Südfrankreichs. Er besaß kaum Bücher, ein paar CDs und DVDs, nichts Besonderes, nichts Wertvolles. Seine Kleider und seine Schuhe würden Walter nicht passen, der schwerer war und größer als er. Einzig die Wohnung würde etwas abwerfen. Andreas hatte sie zu einem Zeitpunkt gekauft, als das Viertel noch nicht so populär war wie jetzt.
    Es war seltsam, dass ausgerechnet sein Bruder, mit dem ihn so wenig verband und dem er noch nicht einmal glich, sich um all das kümmern müsste. Es war Andreas nicht recht, dass sein Tod Umstände machen würde. Aber das ließ sich wohl nicht vermeiden.
    Er schaute sich seine Mitreisenden an, das verliebte Paar, das sich an der Tür küsste, zwei Kinder, die miteinander tuschelten, alte Frauen mit müden Gesichtern, Geschäftsleute in billigen Synthetikanzügen, die mit wichtigen Mienen den Wirtschaftsteil der Zeitung lasen. In hundert Jahren seid ihr alle tot, dachte er. Die Sonne würde scheinen, die Züge würden fahren, die Kinder zur Schule gehen, aber er und all diese Menschen, die mit ihm fuhren, würden tot sein und mit ihnen dieser Moment, diese Fahrt, als habe sie nie stattgefunden.
    Die Leute, die mit Andreas ausstiegen, schienen jeden Tag andere zu sein. Er blieb einen Moment auf dem Bahnsteig stehen und schaute zu, wie sie sich in alle Richtungen verloren. Obwohl es noch kühl war, zog er die Weste aus. Er fröstelte, aber er liebte diese
Kühle des Morgens, die sich wie eine Berührung anfühlte und nicht in die Tiefe drang.
    Früher hatte er in einem Vorort noch weiter draußen unterrichtet. Er hatte sich immer wieder um eine Stelle in der Stadt beworben, aber jedes Mal waren ihm Kollegen vorgezogen worden, die älter waren oder verheiratet oder Kinder hatten. Als vor zehn Jahren das Gymnasium in Deuil gebaut worden war, hatte Andreas den Traum von einer Stelle in der Innenstadt längst aufgegeben. Wenigstens war sein Arbeitsweg jetzt nicht mehr so lang.
    Er war wie immer eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn im Schulhaus. Im Lehrerzimmer roch es nach Zigaretten, obwohl das Rauchen im ganzen Gebäude untersagt war. Andreas holte sich am Automaten Kaffee und setzte sich ans Fenster. Nach vielleicht einer Viertelstunde kam Jean-Marc, einer der Sportlehrer. Er trug einen Trainingsanzug.
    »Hast du geraucht?«, fragte er, während er sich am Waschbecken das Gesicht wusch. Andreas gab keine Antwort.
    »In der Schweiz wird doch bestimmt nicht geraucht in den Lehrerzimmern.«
    Andreas sagte, er sei seit Ewigkeiten in keinem schweizerischen Lehrerzimmer gewesen.
    »Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?«, sagte Jean-Marc.
    »Lieber nicht.«
    Jean-Marc lachte. Er hatte die Trainingsjacke ausgezogen und wusch sich die Achselhöhlen. Er sagte, es sei eine Schande, dass man
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