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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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zurückgefahren nach Frankreich. Es war nichts Ernsthaftes.«
    »Erzähl mir von ihr.«
    Andreas sagte, er wisse nicht, was er von Delphine erzählen solle. Er wollte nicht an sie denken, wollte nicht über sie sprechen, schon gar nicht mit Fabienne.
    »Wie sieht sie aus?«
    »Sie hat kurze dunkelbraune Haare, ein hübsches Gesicht. Sie ist so groß wie du, aber nicht so sportlich.«
    »Wie alt ist sie?«
    »Vierundzwanzig.«
    »Liebst du sie?«
    »Ich glaube nicht. Bestimmt nicht so, wie ich dich geliebt habe.«
    Wie ich dich liebe, dachte er, aber er sagte es nicht. Er sagte, es habe eine Zeit gegeben, in der er sich habe vorstellen können, eine Familie zu gründen, Kinder zu haben, sich niederzulassen. Aber irgendwann sei das
vorbei gewesen. Er könne noch nicht einmal behaupten, dass er es bedaure. Er sei sich nicht sicher, ob er noch so lieben wolle wie mit zwanzig.
    »Und sie? Liebt sie dich?«
    »Ich weiß nicht. Ich glaube schon.«
    »Genügt dir das nicht?«
    Sie fragte, weshalb Delphine gegangen sei. Andreas wollte ihr sagen, dass er nicht nach Paris zurückkehren, dass er im Dorf bleiben werde, aber sein Plan kam ihm plötzlich absurd vor. Er war ihretwegen hierher gekommen. War die Geschichte mit ihr abgeschlossen, gab es für ihn keinen Grund zu bleiben. Er sagte, er habe sich mit Delphine gestritten. Wegen einer Bagatelle.
    »Es geht mich nichts an«, sagte Fabienne.
    Sie waren zurück zur Hütte gekommen. Fabienne sagte, sie müsse nach Hause, ihre Männer seien bestimmt bald zurück.
    »Und du kochst ihnen das Mittagessen.«
    »Ja«, sagte Fabienne, »ich koche ihnen das Mittagessen.«
    »Wirst du es Manuel erzählen? Was geschehen ist?«
    Fabienne schüttelte den Kopf. Wozu? Sie streckte Andreas die Hand hin und sagte, leb wohl. Er gab ihr die Hand und küsste sie auf die Wangen. Sie stieg auf das Fahrrad. Sie war schon einige Meter gefahren, als sie noch einmal anhielt.
    »Das hätte ich fast vergessen«, sagte sie. Sie stieg ab und zog das Büchlein, das Andreas ihr mitgebracht hatte, aus der Jackentasche. Er trat zu ihr, aber er nahm das Buch nicht.
    »Hast du es gelesen?«
    »Ja.«
    »Und?«
    »Es muss hunderte von Geschichten geben wie unsere.«
    »Aber all die Details. Dass ich dich Schmetterling genannt habe ...«
    »Das war Manuel. Er hat mich so genannt.«
    »Und die Katze, die sie sich kauft, als sie nach Paris zurückkommt?«
    »Ich hatte nie eine Katze.«
    Andreas fragte, ob sie sicher sei. Fabienne lachte ihn aus.
    »Das muss eine andere gewesen sein.«
    »Eigentlich ist es die Geschichte von dir und Manuel«, sagte Andreas.
    »Nein«, sagte Fabienne, »es ist unsere Geschichte. Das mit Manuel ist keine Geschichte. Das ist die Realität.«
    Sie standen sich gegenüber und schauten sich an. Dann umarmte Fabienne Andreas und küsste ihn auf den Mund, es war ihr erster Kuss. Ihre Lippen waren trocken und etwas rau, es war der Kuss eines jungen Mädchens. Sie küssten sich lange, bis sie außer Atem waren.
    »Behalt das Buch«, sagte Andreas, als sie sich endlich voneinander lösten.
    Fabienne lächelte. Ohne ein weiteres Wort stieg sie auf ihr Fahrrad und fuhr davon. Andreas schaute ihr nach. Sie stand in den Pedalen, das Fahrrad schwankte hin und her. Der Weg führte am Waldrand entlang und dann über eine Wiese mit alten Obstbäumen und an
einem Bauernhof vorbei. Als Fabienne die ersten Häuser des Dorfes erreichte, war sie nur noch ein gelber Punkt.
    Andreas ging zurück zur Hütte und setzte sich auf die Bank, die sich an der Vorderfront entlangzog. Er fühlte sich schwach, aber seine Gedanken waren klar wie seit Monaten nicht mehr. Er empfand nichts als eine Art heiterer Gleichgültigkeit. Es war ihm, als sei er ein Gewicht losgeworden, das achtzehn Jahre lang auf ihm gelastet hatte. Vermutlich wäre sein Leben anders verlaufen, wenn er damals den Brief abgeschickt hätte. Vielleicht war gerade das ein Trost. Hätte Fabienne ihn von sich gewiesen, wäre ihm sein langes Warten noch sinnloser erschienen.
    Er versuchte, sich an die Zeit mit ihr zu erinnern, aber es waren immer dieselben Szenen, die ihm einfielen. Der Wald, der Weiher, das Kino in Paris. Er erinnerte sich an jedes Detail, sah Manuel, Beatrice, die anderen jungen Männer und Frauen, mit denen sie in jenem Sommer Zeit verbracht hatten, und sogar sich selbst. Nur Fabienne war seltsam unscharf in diesen Bildern. Bei ihrem letzten Kuss, bei ihrem ersten Kuss, war Fabienne endlich lebendig geworden. Es war nur dieser eine Kuss,
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