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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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PROLOG

    GROßES SCHWEIGEN IM BUS NACH BAMBERG . Alle sind auf ihren Plätzen, alles ist wie immer: der dicke Micha am Steuer, dahinter sitzen Baldi und Demirel und Coach Katzurin, alle arbeiten und telefonieren. Konsti liest Handke, Bobby schnarcht. Mein Platz ist neben den Wasserkästen. Die Spieler reisen oben im Doppeldecker, kreuz und quer über die Sitze verteilt, Yassin Idbihi inmitten von Zeitungsseiten, Süddeutsche, Spiegel, taz, gleich daneben Schaffartzik mit Buch. Schultze und Femerling diskutieren, Rochestie singt vor sich hin, Beach Boys, Rochestie singt immer vor sich hin. Staiger schläft auf dem Gang, der 2,13-Mann Miro Raduljica sitzt kerzengerade eingeklemmt zwischen den Liegesesseln, den Blick stoisch nach vorn, Tadija kann nicht stillhalten. Bryce sitzt dort, wo früher Hollis Price gesessen hat. Jenkins unter Kopfhörern ganz hinten auf der Rückbank, Derrick Allen mit den Scoutingpapieren, McElroy in sein Kissen gewickelt. Ganz vorn der Physio, Tommy und Hi-Un, der Doc. Alles ist wie immer und gleichzeitig ist alles anders. Heute ist ein perfekter Tag für eine letzte Busfahrt, klar und sauber, die Sonne über allem. Die Route ist wie immer: Siegessäule, Avus, Schkeuditzer Kreuz, Pause an der Autobahn, bergauf, bergab, Bamberg. Es liegt Melancholie in der Luft, aber das würde niemand zugeben. Am Morgen haben ein paar Spieler ihre Schränke im Trainingszentrum geräumt, Duschgel und Kinderbilder, Amulette und löchrige Socken. Der dicke Micha hat die Taschen eingeladen und jeden einzeln begrüßt. »Das allerletzte Mal heute«, hat er gesagt, »danach fahr ich euch nirgendwo mehr hin.«
    Die Saison war lang, die längste in der Geschichte von Alba Berlin. Wir sind seit mehr als zehn Monaten unterwegs. Seit dem Trainingslager inKranjska Gora in den slowenischen Alpen sitzen wir in Bussen, Flugzeugen und Umkleidekabinen, wir standen an italienischen Buffets, an Gepäckbändern in Moskau, wir saßen in Quakenbrücker Konferenzräumen, auf Hagener Kabinenbänken, in Cafés an der Peripherie von Sevilla, wir checkten ein, wir checkten aus. Wir steckten im Schnee und in der Krise. Wir waren in hundert Autobahnraststätten, dreißig mitternächtlichen McDonald’s, Burger Kings und Subways. Ich sage »wir«, weil ich die Mannschaft von Alba Berlin seit letztem August begleite. Die Spieler haben Gewichte gehoben, Videos gesehen, Interviews gegeben, sich die Knöchel tapen lassen, Autogramme geschrieben und Wunden geleckt. Ich habe auf meinem Platz in der Kabine gesessen, ich habe zugesehen, hingehört und mitgeschrieben. Ich habe gegessen, was die Mannschaft gegessen hat, ich habe Stück für Stück meine Objektivität aufgegeben. Ich bin dabei gewesen.
    Die Mannschaft hat in diesen zehn Monaten fast siebzig Spiele gespielt, in der Euroleague-Qualifikation, im Eurocup, Pokal und in der Bundesliga. Es gab schlimme Niederlagen, es gab Tränen, Nasenbluten, Sehnenrisse. Diese Saison war eine lange Reise durch schwierige Landschaft: das frühe Ausscheiden im Eurocup, die verfehlten Erwartungen, bittere Niederlagen, Beschwerdegesichter bei Fans und Journalisten. Der Tiefpunkt war die höchste Niederlage der Vereinsgeschichte: ein 52:103-Kugelhagel, ausgerechnet in der Bamberger Halle. Wir wurden aus der Stadt gejagt, Hohn und Spott, Schimpf und Schande. Coach Katzurin löste Luka Pavi ć evi ć als Trainer ab, zwei Spieler gingen, drei neue kamen. Wir verloren weiter, es gab Niederlagen in Serie, es ging immer weiter bergab. Wir scheiterten im Pokal. Dann gab es einige überzeugende Siege, es ging endlich wieder bergauf.
    Vor allem aber ging es immer weiter: Alba Berlin hat die Playoffs erreicht. Und morgen ist Samstag, der 18. Juni, und die Mannschaft von Alba Berlin ist immer noch dabei, wir sind immer noch dabei – viel länger, als die Journalisten geschrieben und die meisten vermutet haben, viel länger, als Bobby vorausgesagt hat. Vielleicht hat manchmal sogar der Mannschaft selbst die Überzeugung gefehlt. Dieser 18. Juni war monatelang ein abstraktes Datum, ein irrealer Tag in weiter Ferne:der allerletzte Spieltag der Saison. Um diesen Tag zu erreichen, mussten unwahrscheinliche und unglaubliche Dinge geschehen: Zwei kräftezehrende und nervenzerfetzende Playoff-Serien gegen Oldenburg und Frankfurt mussten gewonnen werden, das Finale musste in die fünfte und entscheidende Runde gehen.
    Und jetzt sitzen wir im Bus und fahren nach Bamberg, zum Finale um die Deutsche Meisterschaft. Das
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