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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem
Autoren: Peter Stamm
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Weg sein, den sie in jener Nacht genommen hatten, in der sie Verstecken gespielt hatten. Er führte immer geradeaus, in der Ferne konnte man sehen, wo der Wald aufhörte. Eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann fragte Fabienne, was in dem Brief gestanden habe, den Andreas ihr damals nicht geschickt hatte.
    »Dass ich dich liebe«, sagte Andreas. »Nicht viel mehr, glaube ich.«
    Er fragte, was sie gemacht hätte, wenn sie den Brief bekommen hätte.
    »Ich weiß nicht«, sagte Fabienne. Sie schien nachzudenken. Sie sagte, sie habe Manuel wirklich gern. Sie hätten es gut zusammen.
    »Wann hat das angefangen mit euch beiden?«
    »Eigentlich an dem Tag, an dem du mich geküsst hast. Er war aufmerksam zu mir. Er hat mich nach Hause gebracht. Ich war ziemlich durcheinander.«
    »Hätte ich das Auto gehabt«, sagte Andreas.
    »Es war nichts in jener Nacht«, sagte Fabienne. »Wir haben nur geredet. Du warst so abweisend, nachdem
du mich geküsst hattest. Du hast getan, als sei nichts gewesen. Und dann bist du richtig aggressiv geworden. Ich habe Manuel von deinem Kuss erzählt. Wir haben lange über dich geredet. Dabei sind wir uns näher gekommen. Am nächsten Tag hat er mir Blumen gebracht. Geküsst hat er mich erst viel später.«
    Andreas sagte, er habe wohl nie eine Frau so geliebt wie sie. Fabienne sagte nichts. Sie gingen langsam nebeneinander her durch den Wald. Andreas war erstaunt, dass er keinen Groll auf Manuel hatte, dass er noch nicht einmal eifersüchtig war auf ihn. Er hätte nicht mit ihm tauschen wollen. Er blieb stehen und zog Fabienne an sich. Er küsste sie auf den Mund, aber sie erwiderte den Kuss nicht. Sie umarmte ihn wie einen guten Freund und legte ihren Kopf an seine Brust.
    »Es hat keinen Sinn«, sagte sie.
    Sie machte sich los und ging weiter. Andreas folgte ihr.
    »Eine Nacht«, sagte er. »Lass uns eine Nacht miteinander verbringen. Damit wir etwas haben, woran wir uns erinnern können. Nicht nur diese zehn Minuten.«
    »Die Liebe dauert zehn Minuten«, sagte Fabienne. »Was würde es ändern?«
    »Warum hast du überhaupt mit mir geschlafen?«
    »Ich war neugierig«, sagte Fabienne und nach einer Weile, sie könne nicht einfach eine Nacht von zu Hause wegbleiben, wie er sich das vorstelle. Sie habe in den fünfzehn Jahren, die sie mit Manuel verheiratet sei, kaum eine Nacht ohne ihn verbracht.
    »Erinnerst du dich an unsere Treffen in Paris?«
    »Ich weiß noch, dass wir uns getroffen haben«, sagte Fabienne und lächelte entschuldigend.
    »In der Moschee«, sagte Andreas. »Und einmal sind wir ins Kino gegangen. Der Film ist gerissen, und sie konnten das Ende nicht zeigen. Dann kam jemand und hat den Schluss erzählt.«
    »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
    Das sei so lange her, sagte Fabienne. Inzwischen sei so viel geschehen.
    »Nicht für mich«, sagte Andreas.
    Sie waren am Waldrand angelangt und stehen geblieben. Der Weg führte weiter geradeaus, an der Kiesgrube entlang und zwischen Feldern und Wiesen hindurch zum nächsten Dorf.
    »Bist du glücklich?«, fragte Andreas.
    »Ich bin nicht unglücklich«, sagte Fabienne. »Gehen wir zurück.«
    Andreas sagte, er habe das Gefühl, eine riesige Dummheit gemacht zu haben, die nicht wiedergutzumachen sei.
    »Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich den Brief geschrieben habe. Ich aß in einer Pizzeria in der Nähe der Oper. Es war an einem Abend, ich war allein, und ich fing an, in mein Notizbuch zu schreiben, über unsere erste Begegnung, und wie wir an die Weiher gefahren sind, und wie ich dich geküsst habe. Unsere Geschichte. Und dass ich mir wünschte, sie würde weitergehen. Hätte ich eine Briefmarke gehabt und einen Umschlag, vielleicht hätte ich den Brief gleich abgeschickt. Aber am nächsten Morgen traute ich mich nicht mehr.«
    Sie schwiegen. Andreas fragte sich, ob die Beziehung gehalten hätte. Sie waren beide noch so jung gewesen. Vielleicht hätte er Fabienne unglücklich gemacht, vielleicht hätten sie sich längst getrennt. Oder sie wären immer noch ein Paar, eines jener Paare, die nur zusammenblieben aus Angst vor der Einsamkeit. Sie passten nicht wirklich zusammen. Damals war ihm das nicht wichtig erschienen. Er hätte sich gerne eingeredet, seine Liebe habe nur deshalb so lange überdauert, weil sie sich nie erfüllte. Er fragte Fabienne, woran sie denke. An nichts, sagte sie.
    »Was sagt eigentlich deine Freundin, wenn du dich dauernd mit mir triffst?«
    »Das ist vorbei. Sie ist
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