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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Der wirre Nachtzopf lag über ihrer Schulter, hilflos zwinkerte sie gegen das elektrische Licht an, hob langsam eine Hand. In diesen längst vergangenen Morgenstunden sah Emil immer zuerst auf den davonhüpfenden Jungen, dem sein Vater die Autotür aufhielt, dann auf den sich langsam hinter der Scheibe dehnenden Frauenkörper. Carla trank einen Schluck Kaffee, fuhr mit der Hand in die Tasche des Morgenrocks und fischte die kleine blaue Nivea-Dose heraus, beschmierte sich den Mund. Immer war ein weißer Rand unter ihrem Zeigefingernagel. Immer hatte sie weiche Lippen. Dieser Babygeruch, völlig unpassend für eine Frau.
    Heute morgen trug sie das dunkelblonde Haar zum Knoten aufgesteckt. Sie färbte es schon seit Peters Kindheit. Im Scheitel wuchs der weiße Ansatz nach, ein paar spröde Härchen sprangen hoch. Ihre Gestalt war ein wenig vorgebeugt, der Hals ragte zwischen den Schultern vor wie der Kopf einer Schildkröte aus dem Panzer. Ihre Haltung machte aus dieser Frau ein verbogenes, linkisches Wesen, obwohl sie alle Voraussetzungen für eine Schönheit mitbrachte: schmale Glieder, lange Beine, ein ovales ebenmäßiges Gesicht, Peters helle Augen.
    Carla hielt auf der Türschwelle inne und sah Peter nach, der kaum die Füße hob, als er wieder zu seinem Auto ging. Emil merkte, daß sie nervös war. Mit dem Zeigefinger pulte sie in ihrem rechten Auge herum, das dabei nicht geschlossen blieb, sondern sich weißlich nach oben verdrehte. Schließlich tappte sie hinter ihrem Sohn her, hielt aber Abstand, als traue sie sich nicht, ihn zu berühren. Peter blieb mit hängenden Armen vor dem geöffneten Kofferraum des Fiats stehen.

2 Carla schob sich an Peter vorbei und begann, den Kofferraum auszuräumen. Sie hievte zwei volle Plastiktüten heraus, stellte sie aber sofort ab und faßte sich ins Kreuz. Emil verzog mitleidig das Gesicht. Schon die junge Carla hatte bei ihrem Einzug ins Nachbarhaus vor über 30 Jahren keine Kiste, keinen Wäschekorb heben können. Die Galertkissen ihrer Bandscheiben waren zusammengeschnurrt und schützten den Ischiasnerv nicht mehr. Einmal zwischen zwei Knochenblöcken eingeklemmt, wurde er zum Quell schrecklicher Schmerzen. Carlas reflexartiger Griff nach hinten gehörte ebenso zu ihr wie die immer etwas erschrocken aufgerissenen, blaugrünen Augen. Sie hatte blonde Wimpern, viel heller als ihr Haar. Wenn sie sie morgens hastig tuschte, kleckste sie häufig ein paar schwarze Spritzer auf die Wangenknochen, die dann den ganzen Tag über dort saßen. Erwischte man sie abgeschminkt, verbarg sie das Gesicht in der Armbeuge.
    Heute morgen war Carla besonders hektisch. Sie nahm ein Paar verdreckter Wanderstiefel und stellte sie neben die Plastiksäcke, stieß einen davon um und mußte in die Knie gehen, um die herausgefallenen Sockenpäckchen und Unterhosen aufzulesen und zurückzustopfen.
    Emil hörte ihre halblauten Flüche, das flache norddeutsche »Schiet!«. Carla war Hamburgerin. Sie bezeichnete sich selbst gerne als Fischkopf: »Ich armer Fischkopp unter euch wilden Südländern.« In Hamburg war sie Sprechstundenhilfe bei einem Allgemeinarzt gewesen. Ihren ungeliebten Beruf hatte sie ohne Bedauern aufgegeben, um Hajo nach Stuttgart zu folgen. Entkommen war sie ihm dort nicht. Bald gab ihr Mann sein Angestelltendasein in einer Stuttgarter Klinik zugunsten der eigenen Praxis in Burghalde auf. Hajos Wunsch, sein eigener Herr zu sein, setzte auch Carla unter Druck. Sie ließ sich zähneknirschend zweimal wöchentlich in der Praxis sehen, tippte Privatrechnungen und dekorierte das Wartezimmer. Zufrieden war sie nicht, das wußte Emil seit Jahren aus vielen Gesprächen: »Er ist nicht sein eigener Herr. Das sind seine Krebskranken, das Altenheim, die Nachtdienste. Es gibt nie Feierabend.«
    Peter stand noch immer vor dem Auto. Reglos starrte er an seiner Mutter vorbei. Sie zerrte stöhnend die Reisetasche heraus und zog den klaffenden Reißverschluß kopfschüttelnd zu. »Schnuck, kannst du diese Sachen schon hochtragen?« Peter reagierte nicht. Von den alten Kosenamen – Hasenmeister, Erdmännchen, Flock – hatte nur der Schnuck überlebt. Stets waren die zärtlichen Worte zu hören, wenn Carla ihren kleinen Sohn herzte, die Form seiner Nase mit dem Finger nachfuhr oder ihn ungestüm hochhob und das Gesicht unter seinen Pullover wühlte, bis er sich in Kitzelkrämpfen wand.
    Carla nahm Peter am Arm, zog seinen schlaffen Oberkörper leicht in ihre Richtung und sprach ihn mit ungewohnter
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