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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Berg, da steht der Riese.‹ Ich weiß noch genau, wie du es mir zum ersten Mal aufgesagt hast, abends, unter dem Mirabellenbaum. Es war ganz still, man hat nur ein paar Vögel gehört und deine Stimme. Du hast die Arme ausgebreitet und dagestanden wie ein Zauberer.« Emil lächelte verlegen. Peter sprach weiter, seine Stimme war hell und begeistert: »Als Kind habe ich nur auf das Märchen geachtet und den Rest nicht verstanden. Das beste daran war natürlich, daß wir alle am Schwarzen Berg wohnten.« Emil winkte ab. Er hatte dem kleinen Peter alles vorgetragen, was er auswendig konnte: Uhlands und Schillers Balladen ebenso wie den ganzen Mörike. Wenn Emil mit geöffneten Armen vor die Klasse trat, lehnten sich seine Schüler in ihren Stühlen zurück. Ein paar kicherten, die meisten lauschten schweigend.
    Daß seine Straße der Anfang eines Gedichts war und Mörike diese Verse auf einem Spaziergang von Burghalde in den Gängelbachwald geschrieben hatte, gehörte zu Peters Kindheitsmythen. Erst Ende der achtziger Jahre wurde Emils Erfindung zum Teil wahr, als eine Neubausiedlung am Schwarzen Berg hochwucherte. Seine Bürgerinitiative (›Burghaldener gegen Landschaftsverbrauch‹) verlor ihren Kampf gegen die schmucken Einfamilienhäuser. Dafür wurden die beiden neuen Straßen, die vom Schwarzen Berg abzweigten, auf Emils Vorschlag hin nach den Mörike-Freunden Waiblinger und Hartlaub benannt.
    Im Etzelweg hatten Emil und Peter nebeneinander im feuchten Gras gestanden und die reimbefrachteten, wogenden Verse zweistimmig hergesagt, bis sie in einen Rhythmus fielen, aus dem es kein Entkommen mehr gab:
    »Am schwarzen Berg da steht der Riese,
    Steht hoch der Mond darüber her;
    Die weißen Nebel auf der Wiese
    Sind Wassergeister aus dem Meer:
    Ihrem Gebieter nachgezogen
    Vergiften sie die reine Nacht.«
    Die kahlen Zweige der Ebereschen stachen in den wolkenlosen Himmel, Meisen zankten über ihren Köpfen, und Emil hatte vorsichtig an Peter hochgeschaut, der etwas größer war als er selbst. Er staunte darüber, wie schön er ihn fand, die breiten Schultern, die stämmigen Beine und das schmale, immer leicht verwundert dreinblickende Gesicht mit den weit geöffneten grünblauen Augen. Peters Wangen waren stoppelig. Er trug einen einfachen Kurzhaarschnitt, vielleicht Mias Werk. Einmal hatte er stolz berichtet, daß sie ihm und den Jungen den Friseur spare. Auch bei diesem Besuch hatte Emil sich gefragt, ob seine Begeisterung für Peter sich irgendwann legen und er nur einen mittelgroßen vierzigjährigen Familienvater vor sich sehen würde, dem ein altes Baumwollhemd aus den verschossenen Cordhosen hing, der Gummistiefel trug und Dreck unter den Fingernägeln hatte. Sie sprachen das Gedicht zu Ende. Peters Jungen, dunkelhaarig und großäugig, mit runden Köpfen und feingliedrigen Körpern, krabbelten aus dem Zelt und stellten sich kichernd neben ihren Vater. Der kleinere ergriff Peters Hand.
    »Dann, wie aus Nacht und Duft gewoben,
    Vergeht dein Leben unter dir,
    Mit lichtem Blick steigst du nach oben,
    Denn in der Klarheit wandeln wir.«
    Später hatten sie gemeinsam am Zaun ein winziges Hügelgrab errichtet. Die Kinder trugen Kieselsteine, Lehmklumpen und Tonscherben aus allen Ecken des Gartens herbei. Ivo brachte eine Streichholzschachtel, die er mit dem Zeigefinger aufschob. Darin lag, glasig und mit verblasstem Streifenmuster, eine tote Keilfleckbarbe, an deren geöffnetem Maul ein weißer, pelziger Ausschlag hing. »Oh, das ist schade. Die Schimmelkrankheit«, sagte Emil. Der Junge nickte. »Zwei Welse sind schon gestorben. Die haben wir neulich begraben. Aber jetzt ist Medizin im Aquarium. Das Wasser ist ganz grün geworden, und man darf das Licht nicht anmachen. Papa sagt, meistens geht die Krankheit dann weg. Wir haben das Aquarium noch nicht so lange. Papa hat gesagt, als Kind hätte er auch eins gehabt, von dir. Es gibt sechzehn Fische: vier Antennenwelse, sechs Buckelköpfe und sechs Keilis. Wir füttern sie jeden Morgen und Abend, und Papa will mit uns Wasserflöhe für sie fangen, beim Tümpel hinten im Wald.« Der Fisch in der Schachtel wurde mit Tulpenblättern und Moos bedeckt. Über dem kleinen Erdloch häuften die Jungen Steine auf. Peter ritzte Buchstaben in ein Stück Rinde, und sie steckten es auf das Grabmal.
    Während die Kinder mit dem Begräbnis beschäftigt waren, saßen die Männer in der Sonne auf der Mauer. Auf einem fleckigen Holztablett brachte Peter eine Tonkanne mit strohumwickeltem
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