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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Vogelstimmen zu hören waren. Seine Träume waren von scheußlicher Plastizität. Immer wieder sah er den Schatten eines haarlosen, vierbeinigen Wesens mit zuckendem Schwanz, vielleicht eine Maus, zwischen Bettbezug und Inlet zappeln. Wenn er zugriff, fühlte er die Hitze des winzigen Körpers, der sich ihm sofort entwand und in der Decke weiterrannte. In einem anderen Traum brach ihm ein Paar dünner, ledriger Flügel aus seiner Rückenhaut. Sie wuchsen unaufhaltsam und mit einem ekelerregenden Knistern bis hinab zu den Kniekehlen. Wollte er sie entfalten, spürte er einen krampfartigen Schmerz. Sie ließen sich nicht öffnen, fielen schließlich ab, und Emil wurde von einem trockenen Schluchzen geschüttelt, das ihn weckte. Obwohl er nicht in die Schule mußte, zog er sich jeden Morgen leise an und stellte sich hinter den Vorhang im Arbeitszimmer. Peter trug Gummistiefel und Parka über seinem Schlafanzug. An den schlotternden Flanellbeinen waren Marmeladenspuren zu sehen. Er schlüpfte durch die Küchentür, vor der ein Holzperlenvorhang hing.
    Trotz der Morgenkälte hatte Emil sein Fenster damals immer gekippt gelassen. So konnte er das Klackern der Perlen hören, das matschende Geräusch der Sohlen auf den Wegplatten, die Rufe des Kindes, das ein mit Kalk verschlossenes Weinbergschneckenhaus hochhob, damit seine Mutter es bewunderte. In Hausschuhen und Lammfelljacke trat Carla vor die Tür, um ihrem Sohn eine Tasse Kakao zu bringen und die weichen Stacheln seines Nackenhaares gegen den Strich zu streicheln. Emil fuhr sich durch das eigene Haar. Es war hinten zu lang, seine Finger verhakten sich in den zottigen Strähnen. Der Junge schmiegte sich kurz an die Beine seiner Mutter, drückte das Gesicht gegen ihren Bauch, bevor er wieder losrannte. Seine Bewegungen waren wild und graziös. Er kletterte in den Obstbäumen, balancierte über die Sandsteinmäuerchen. Vor dem diesigen Grau des Morgenhimmels strahlten die spitzen gelben Blüten des Winterjasmins, leuchteten die Narzissenbüschel. Auf seinem Posten vergaß Emil die Zeit. Wenn er Veronika hörte, stürzte er in die Küche und riß das Frühstücksgeschirr aus den Schränken. Auf dem Gymnasium unterrichtete er ab Klasse zehn. Seine Schüler waren junge Erwachsene, die er mit Rousseau, Hesse und Böll fütterte, in Heiner-Müller-Stücke schleppte und im ›Lehen‹ in der Römerstraße beim Lehrer-Schüler-Stammtisch mit Mezzomix-Runden traktierte. Er konnte stundenlang mit ihnen über Erich Fromm und Mitscherlich diskutieren. Sie bemühten sich so sehr um einen erwachsenen Ton, daß er häufig darauf hereinfiel. Die Unterstufe übersah er. Das Kollegium wußte, daß er für diese Altersgruppe nicht zur Verfügung stand: »Ich kann nicht mit so kleinen Kindern, die machen mich nervös.«
    Dr. Hans-Jochen Rau und seine Frau Carla klingelten nach einer offiziellen Vorstellung ständig. Sie fragten nach Bohrmaschine, Verlängerungskabel, Kondensmilch, entschuldigten sich für den Baulärm, machten Konversation. »Wenn alles fertig ist, entschädigen wir Sie mit einem schönen Kaffeetrinken auf unserer Terrasse.«
    Hajo ging in der liebevollen Renovierung des Hauses auf. Für die Finanzierung nahm er zusätzliche Nacht- und Wochenenddienste auf sich. Auch samstags saß er in der Praxis, führte Vorsorgeuntersuchungen durch, betreute Privatpatienten. Schon vor dem Einzug verbrachte er viel Zeit auf der Baustelle. Unter den lächelnden Anweisungen der Handwerker aus dem Dorf hobelte er an Wetterschenkeln herum, schliff Türen ab und hackte den alten Fliesenboden in Küche und Bad heraus. Seinen Sohn konnte er für diese Arbeiten nicht begeistern. Häufig stahl sich Peter von einem Auftrag davon, verschwand im Unterholz des Gartens, in den nahen Wald oder kroch in der Ligusterhecke zwischen den beiden Grundstücken herum. Wenn er Emil am Fenster entdeckte, winkte er ihm zu.
    An seinem letzten Ferientag hatte Emil sich durch diese Hecke gezwängt und Peter eine Schildkröte vor die Füße gesetzt. An ihrem schwarzgelben, gebuckelten Panzer klebte noch Lehm. Der runzlige Hals schob sich aus dem harten Gehäuse. Neben den runden, dunklen Augen verliefen tiefe Furchen in der ledrigen Haut, die dem kleinen Gesicht zusammen mit seinem zahnlosen Maul und schnabelartigen Profil etwas Altfrauenhaftes gaben. »Sie saß heute morgen vor meiner Tür. Wahrscheinlich ist sie gerade aus dem Winterschlaf aufgewacht. Sie graben sich ein, genau wie Weinbergschnecken. Löwenzahn
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