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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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zahlreiche Beispiele, einschließlich des Gedankens der Erfindung einer Hoffnung für die Sprache, einer Richtung, einer Schimäre der Hoffnung, und wir hören, dass wir singen sollen, und das Lied, das wir singen sollen, gehört zum Ästhetischen, und dieser Weg ist die Freiheit. Eine Reihe von Aussagen folgt dann, vielleicht eine Reihe von Erfindungen einer Hoffnung für die Sprache. Das »Ich« – Darwish – weist auf sich selbst hin und spricht: »Ich sage: Das Leben, das nicht definiert werden kann / außer durch den Tod, ist kein Leben« (S.   182). Und dann sieht es aus, als habe sich das Gedicht in Regieanweisungen von anderswo her verwandelt. Die Stimmen scheinen nirgendwo angesiedelt und es bleibt ungewiss, wann sie sprechen:

    »Er sagt: wir werden leben.
Lass uns also Meister der Worte sein, die
Ihre Leser unsterblich machen …« (S.   182)
    Bei dieser Strophe können wir nur innehalten, denn er, Said, ist nicht mehr, und dennoch spricht er in Darwishs Gedicht, im Präsens, auf unmögliche Weise unsterblich im Wort vielleicht, in einem zuversichtlichen Sprechakt im eigenen Namen, aber auch als Pluralität. Das »wir«, das leben wird, das sind gewiss die Palästinenser, aber es ist auch Said, der lebt, in Darwishs dichterischem Diskurs, solidarisch und in einer erweiterten Gegenwart. Es ist Saids Stimme, die das möglich macht – oder ist es Darwishs? Oder ist das eben deshalb möglich, weil wir nicht sicher sein können, wann wessen Stimme spricht und welche Stimme hier die jedes Palästinensers ist? Dieser kontrapunktische Rhythmus schließt beide Autoren ein, aber Darwish ist es, der noch am Leben ist und Said Leben gibt. Das scheint durch die Anrede zu geschehen und durch die Gegenrede, aber auch dadurch, dass jeder andere mit angesprochen wird. Inwiefern verleiht diese Anrede Leben oder erfindet diese Anrede Hoffnung? Weil die Nakba in mancher Hinsicht nie aufhört, nie als Geschichte zur Ruhe kommt; es bleibt die Frage, welche andere Zeit vielleicht noch möglich ist. An einer Stelle schreibt Darwish: »Weder ich bin es noch er [Said], der fragt; es ist ein Leser, der fragt: Was kann Dichtung ineiner Zeit der Katastrophe sagen?« (S.   180) Wir könnten hinzufügen: Was trägt die Dichtung zur Eröffnung einer Zukunft jenseits der Katastrophe bei?
    Mit dieser Frage verfolgen wir vielleicht immer noch den Übergang des Schreis in die Dichtung. Steht das mit der unmöglichen Aufgabe in Verbindung, von der es heißt, Said habe sie Darwish hinterlassen? Wir haben bereits gesehen, wie unklar blieb, ob dieser Schrei getan werden soll oder nicht, und was aus ihm hervorzugehen schien, war ein Lied und dann eine veritable Hymne an das Ästhetische, verstanden als Freiheit – eine Bewegung wie aus einer Abhandlung aus dem Deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts. Um jedoch die unendliche Aufgabe auszuloten, müssen wir vielleicht noch einmal kurz auf diese Wendung zurückkommen: »schrei, um zu wissen, dass du noch lebst / und lebst und dass Leben auf dieser Erde / möglich ist«.
    Der Said des Gedichts macht klar, dass die Aufgabe nicht in der Sicherung einer Möglichkeit liegt, vielleicht nicht einmal in der Sicherung eines möglichen Lebens: Sein Vermächtnis ist das Unmögliche. Hier noch einmal die Verse; der erste und letzte wiederholen sich und schließen alles dazwischen Gesagte ein: »Wenn ich vor dir sterbe, ist mein letzter Wille das Unmögliche.« In einer Zeile, die an Kafkas Parabeln erinnert, fragt Darwishs Stimme: »Ist das Unmögliche fern?« Und Saids Stimme antwortet: »eine Generation weit«. Natürlich fragen wir zu Recht, ob sein Vermächtnis wirklich das Unmögliche ist, denn wenn es noch eine Generation entfernt ist, ist es möglich – aber nicht für uns. Das erinnert an die berühmte Stelle bei Kafka, an der es heißt: »O, viel Hoffnung, eine unendliche Hoffnung, aber nicht für uns.« Kafka schreibt das, nachdem er erklärt hat, dass unser Leben nur eine üble Laune Gottes ist, ein Selbstmordgedanke. Merkwürdig an diesem Moment ist die Implikation, dass Gott auch andere Stimmungen kennt, von denen unser Leben jedoch ausgeschlossen ist. 207 Ähnlich scheint es Said und der Frage nach dem Wollen des Unmöglichen zu ergehen. Es bleibt natürlich uns überlassen, uns einen Reim auf dieses Paradox zu machen: Ein mögliches Leben ist ein Leben, das das Unmögliche will. Das »Ich«, das im Gedicht Darwish eine Stimme gibt, hat bereits behauptet: »Das Leben, das nicht
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