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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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Bruch mit der Katastrophe, und dieser Bruch wäre erst die Möglichkeit der Zukunft. Walter Benjamin schrieb 1940 ahnungsvoll gegen jene falschen Fortschrittsvorstellungen, die nur zu Trümmerbergen führen können, eine Position, die sich deutlich von der Fortschrittsgeschichtsschreibung des Zionismus abgrenzt. Die Katastrophe ist eben nicht eine Ereignisfolge, bei der Vergangenes zu Künftigem führt. Unter den Bedingungen der Katastrophe gibt es nur eine Katastrophe, und diese Katastrophe dauert an und »häuft Trümmer auf Trümmer« in einer Gegenwart, die eine Zeit andauernder Zerstörung ist. Natürlich wandeln sich die Vertreibungs- und Besatzungsstrategien, aber wenn wir erwarten, dass diese oder jene Änderung – die Siedlungen, der Likud, der Grenzzaun – das Problem der kolonialen Unterdrückung und Vertreibung des palästinensischen Volkes lösen wird, haben wir die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß und ihrer Wiederholung nicht begriffen.
    Man mag sich wünschen, dass das Gedicht zu einer Heimat wird, in der das Exil ein Ende findet, aber das Gedicht ist kein Ort, seine Grenzen sind nicht geschlossen. In diesem Sinn ist es utopisch, es öffnet sich auf eine Pluralität, die der Anrede folgt, die es darstellt. Das Gedicht ruft Said ins Dasein und bietet ihm in seiner Sprache ein Haus, aber es ruft auch das Volk auf,konstituiert es zu genau der Zeit, da seine Selbstbestimmung so radikal unterlaufen wird. Mit Darwish könnten wir tatsächlich sagen, das Gedicht ist dort, »wo Identität offen für Pluralität ist / keine Festung und kein Graben« (S.   178).
    Mit dem Vers »Was sollen wir tun ohne Exil?« im Gedicht mit dem Titel »Wer bin ich, ohne Exil?«, veröffentlicht 1999, richtet Darwish die Frage an andere, aber auch an ein Land und eine Zeit, in der sich dieses Problem tatsächlich stellen könnte. 208 Denn was würde es bedeuten, zu leben in einer Zeit, in der es keinen Gedanken jenseits des Exils gäbe? Der Fremde, an den er das Gedicht richtet, ist jemand anderes, aber auch er selbst. Hier scheint sich die Frage nach einem Binationalismus zu stellen, der sich von den Mythen der Nation verabschiedet hat:

    »Nichts ist mehr von mir da, nur du, und nichts von dir,
nur ich, der Fremde, der den Schenkel seines Fremden streichelt.
Fremder! Was sollen wir tun mit dem, was uns bleibt
an Ruhe und Schlummer zwischen zwei Mythen?
Und nichts trägt uns: nicht die Straße und nicht das Haus.« (S.   91)
    Darwish steht so mit dem namenlosen Fremden in einer unerforschten Wildnis. An anderer Stelle spricht er vom Gedicht selbst als Ort des Exils. Was täten wir ohne Dichtung? Gegen alle Unwägbarkeiten weist sie uns keine Richtung, aber sie gibt uns eine neue politische Kartografie. Darwish führt Said in seiner kontrapunktischen Ode an: »Er sagt: Ich bin von dort, ich bin von hier / aber ich bin weder dort noch hier.« Wer kann das sagen? Diejenigen innerhalb des Staates Israel: sicher. Die Palästinenser im Westjordanland oder in Gaza: sicher. In Flüchtlingslagern im Südlibanon: ja. Exil ist die Bezeichnung der Trennung, aber eben hier sind auch Bündnisse möglich; es gibt sie noch nicht an einem ganz bestimmten Ort, der gewesen ist und ist, aber sie sind möglich am unmöglichen Ort des Noch-nicht, das jetzt geschieht.

Abkürzungen

    BG Benjamin, Über den Begriff der Geschichte
    EJ Arendt, Eichmann in Jerusalem
    FN Lévinas, Frieden und Nähe
    FNE Said, Freud und das Nichteuropäische
    FR White, »Figural Realism in Witness Literature«
    IH Zertal, Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood
    JW Arendt, The Jewish Writings
    KG Benjamin, Zur Kritik der Gewalt
    NTL Lévinas, Neue Talmud-Lesungen
    SF Lévinas, Schwierige Freiheit
    TH Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
    UG Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten

Impressum
    Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism« bei Columbia University Press in New York.
    © 2012 Columbia University Press
    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
    Copyright © 2013. Alle deutschsprachigen Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
    Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln
    Umschlagmotiv: Mideast Israel Palestinians ©
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